Beziehung wirkt – Wie Kinder über Stärken zu sich selbst finden

    Ein Blogbeitrag von Cornelia Wilhelm | Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche | Lehrerin/Konrektorin a.D.
    Wie Kinder über Beziehung und Stärken zu sich selbst finden – warum echte Bildung mit Vertrauen beginnt und Schule den Blick auf Potenziale richten muss.

    Beziehung als Lernmotor

    „Ich kann das sowieso nicht!“ – dieser Satz begegnet mir als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin wie auch als ehemalige Lehrkraft regelmäßig. Er ist meist nicht Ausdruck eines realen Leistungsstands, sondern eines negativen Selbstkonzepts, das sich bei Kindern durch wiederholte Misserfolgserfahrungen tief eingeprägt hat.

    Insbesondere Kinder mit herausforderndem Verhalten haben häufig eine lange Geschichte solcher Erfahrungen. Sie erleben sich selbst – und werden von anderen – als „Problemkinder“ wahrgenommen. Daraus entsteht ein Kreislauf aus Rückzug, Widerstand, Schulvermeidung oder Provokation. Der Blick auf ihre Stärken geht dabei häufig verloren.

    Doch genau hier beginnt eine neue Lernkultur: Wenn wir in Beziehung treten, wenn wir Kinder wieder sehen, wenn wir aufhören, sie auf Defizite zu reduzieren, und stattdessen ihre Stärken entdecken und ernst nehmen.

    Vom Stören zum Staunen

    Ein Schüler, den ich begleiten durfte, zeigt eindrucksvoll, was möglich ist: Adrian, 13 Jahre alt, mit der Diagnose ADHS. Ein Junge, der im Unterricht kaum zu halten war, der sich verweigerte, auffiel, störte – und hinter dem so viel Not lag: familiäre Belastung, schulische Misserfolge, Rückmeldungen wie „zu laut, zu langsam, zu anstrengend“.

    Doch dann passierte etwas Unerwartetes im Kunstunterricht. Adrian entdeckte ein Bild, das ihn faszinierte – ein Ritter in voller Rüstung. Stundenlang arbeitete er konzentriert an einer Zeichnung. Zum ersten Mal wurde ihm rückgemeldet, was funktioniert – seine Ausdauer, seine Beobachtungsgabe, seine Feinmotorik. Das Bild wurde ausgestellt. Adrian wurde gesehen – nicht für das, was stört, sondern für das, was er kann.

    Dieses eine Erlebnis wurde für ihn zum Wendepunkt. Er arbeitete weiter an seinen künstlerischen Fähigkeiten, fand Anerkennung, Zugehörigkeit und schließlich auch Erfolg in anderen Fächern. Beziehung, Sicherheit und die ehrliche Rückmeldung über seine Stärken hatten etwas in Bewegung gesetzt.

    Wirkliche Veränderung beginnt im Blick

    Was bedeutet das für Schule im 21. Jahrhundert?

    • Beziehung ist keine Zusatzleistung, sie ist die Grundlage für Bildung. Kinder lernen nur dort gut, wo sie sich sicher und angenommen fühlen.
    • Heterogenität ist kein Hindernis, sondern die größte Ressource. Jeder Mensch hat Talente – sie sichtbar zu machen, ist Aufgabe von Schule.
    • Eine stärkenorientierte Haltung verändert nicht nur Schüler:innen, sondern auch Lehrkräfte. Sie reduziert Ohnmachtsgefühle und öffnet Handlungsspielräume.

    Schule neu denken heißt: Kinder anders sehen

    Wenn wir Kinder nicht auf ihre Symptome, Diagnosen oder Fehler reduzieren, sondern fragen: Was kannst du? Woran hast du Freude? Wann blühst du auf?, beginnt Lernen wieder zu wirken.

    Verhaltensauffälliges Verhalten ist oft ein Ruf nach Beziehung, nach Sicherheit, nach Gesehenwerden. Wenn wir diesen Ruf hören, entsteht Raum für Entwicklung, für Vertrauen, für Selbstwirksamkeit. Für echte Bildung.

    „Ich bin das, was du in mir siehst.“
    Wir alle entscheiden mit unserem Blick, wie Kinder sich erleben – als defizitär oder als Mensch mit Potenzial.

    Mehr Informationen zu Cornelia Wilhelm auf Instagram: @cw.bildungsraum und auf der Website https://www.schul-transform.de/

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