DIE (INNERE) WIEDERBELEBUNG –
Das Streitobjekt „Schule heute“

Hitzig, oft beinahe gar aggressiv wird seit nunmehr schon längerer Zeit über die inhaltliche und organisatorische Struktur der „Schule heute“ diskutiert. Dies führt letztendlich dazu, dass die „Schule heute“ sogar total in Frage gestellt wird. Außer Frage steht: Die Schule, die Erziehung ganz allgemein muss verändert werden, oder besser gesagt, muss sich im Einklang mit den Veränderungen unserer Gegenwart selbst verändern.
Zunächst waren es nur die Hausaufgaben, die Noten und die Zeugnisse. Fast schon logisch folgten die berüchtigten Übertritte und mit ihnen die Übertritts-Verfahren. Von Grundschulabitur u.a. provokativen und plakativen Ausdrücken und Formulierungen war und ist die Rede. Alles, was angreifbar ist, wurde und wird attackiert. Es folgten die Diskussionen um Integration und Inklusion, die letztlich nur in der Theorie zu existieren scheinen, weil ein immer krasserer und inszenierter Lehrermangel eine Realisierung offensichtlich unmöglich macht. Man sucht nach Sündenböcken, die in Form von Migrantenkindern mit mangelhaften Deutschkenntnissen und fehlendem Interesse an schulischem Lernen scheinbar auf dem Goldtablett serviert werden. Die Lehrer fühlen sich berufen, über zu viel Arbeit und zu schlechte Bezahlung zu klagen. Ohne Zweifel ist die Arbeit eines Lehrers, wenn sie denn stattfindet, gar nicht hoch genug einzuschätzen und muss auch dementsprechend honoriert werden! Die Lehrer machen ihrerseits Front gegen alle! Die Schulbehörden sind die unsensiblen Verursacher schlechter Unterrichtsqualität, weil sie die Lehrer mit zu umfangreichen Plänen etc. beinahe handlungsunfähig machen, und wo noch keine gänzliche „Lehrerpersonallähmung“ eingetreten ist, sorgen schließlich total überdrehte Eltern mit ihren überzogenen Erwartungen und Forderungen für den zwangsläufigen Exitus. Die Qualität der Schule stürzt unbestritten immer noch weiter ab! Logische Folge: Bei derart schlechter Qualität der Schule kann nur noch Selbsthilfe eine Änderung herbeiführen, also boykottieren wir die Schule und helfen wir uns mit „Home-Schooling“ oder schlicht mit „No-Schooling“ selbst. Die Eltern sind ohnehin die besseren Lehrer! Und um dem Ganzen die juristische Angreifbarkeit zu nehmen, verändern wir die Schulpflicht zur Bildungspflicht, denn dann kann schließlich jeder machen, was er will.
Es ist nur ein kleiner Auszug aus der aktuellen öffentlichen Diskussion über Schule und Erziehung in Deutschland. Und kaum jemand registriert, auf welch luxuriösem Niveau sich diese Diskussion, ja teilweise bereits Streiterei, eigentlich bewegt. Doch die Struktur der Schule in ihren Grundelementen muss keinesfalls verändert oder gar abgeschafft werden, wenn eine gänzliche innere Erneuerung stattfindet, die sich an den Elementen der Reformpädagogik orientiert, bzw. sich auf die Reformpädagogik rückbesinnt! Wir brauchen, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, keine Überfütterung durch ausschließlich kommerziell orientierte Privatschulen, die buchstäblich die Gunst der Stunde nutzen und mit oftmals nur pseudoalternativen Schulkonzepten locken. Denn dann wird Schule eines Tages genau das werden, was wir nicht wollen: ein Privileg der Reichen!

Die Dringlichkeit der Veränderungen

Es ist dringend erforderlich, dass wir Veränderungen in der Erziehung in den Familien und in den Schulen entschlossen einleiten und angehen. Die Kinder sind Kinder unserer Zeit, sie haben sich in ihren Erwartungen, in ihrem Verhalten und ihren Gewohnheiten dem Leben heute angepasst, sie sind im Gegensatz zu vielen Erwachsenen, und insbesondere auch zu ihren eigenen Eltern, weitergewachsen. Kinder und Jugendliche heute brauchen das Gespräch, sie wollen verstehen, was sie tun sollen und wollen, sie fragen nach dem Sinn und nach dem Ziel. Sie sind und wollen nicht mehr nur Befehlsempfänger sein, sie wollen partnerschaftlich mitgestalten, soweit dies ihrem Alter und ihren Möglichkeiten entspricht und umsetzbar ist. Sie wollen, dass wir sie ernst nehmen, dass wir in sie hineinhören und uns Zeit nehmen, um ihnen überhaupt erst einmal zuzuhören. Sie wollen ernsthaft Partner sein, sie erwarten und wünschen sich von uns Handlungsspielraum und das Vertrauen in sie, das dazu erforderlich ist. Sie hassen Kontrolle, denn damit drücken wir aus, dass wir ihnen nichts zutrauen und nicht an sie glauben. Gleichwohl erhoffen sie sich von uns, dass wir, wenn auch scheinbar oftmals unsichtbar, ihre Wegbegleiter sind. „Unsichtbar“ führen heißt, nicht manipulieren und indirekt steuern, oder sogar unterdrücken. „Lass mich, ich will dir zeigen, dass ich kann!“ Sie sind selbstbewusst und wollen stark und unabhängig sein. Sie wollen Fehler machen dürfen, denn nur so können sie Erfahrungen sammeln und sich weiterentwickeln. Wir können von den „Kindern heute“ nur lernen! Genau dazu sollten wir letztendlich auch bereit sein und uns an ihrem Wachsen und Reifen freuen.

Grundlegende Erkenntnisse

  1. Wir brauchen eine neue Schule, die sich die Entfaltung und Entwicklung des ganzen Menschen und der Persönlichkeit des Individuums auf die Fahnen schreibt und alle Ziele dahin ausrichtet.
  2. In einer neu ausgerichteten Schule kommt es auf die Besonderheit, auf die Einzigartigkeit des Einzelnen an und nicht auf den Vergleich mit anderen. Wir brauchen keine Uniformierung, wir brauchen Originale und keine Kopien.
  3. In einer aktualisierten Schule, in einer Schule für alle, empfinden wir die fortwährende Begegnung mit dem Anderssein als Geschenk, als Bereicherung und als Herausforderung, als prägendes Merkmal unserer Gemeinschaft und Gesellschaft, wofür wir gegenseitig Verantwortung übernehmen und tragen wollen.
  4. In einer neu überdachten Schule glauben wir an die Kinder und Jugendlichen und zeigen es ihnen, statt sie zu kritisieren.
  5. In einer „Schule heute“ dürfen wir alle Fehler machen, müssen wir sogar Fehler machen, um daraus lernen zu können, denn Fehler sind unabdingbar für den Lernfortschritt. Sie sind Ermutigungen und zeigen uns auf, dass wir etwas noch besser machen können.
  6. In einer neu gestalteten Schule wissen wir, dass Kinder und Jugendliche motoviert und konzentriert arbeiten und lernen, wenn sie auch machen dürfen, was sie gern machen wollen, wenn sie ihre besonderen Fähig- und Fertigkeiten einbringen können. Alle lehrerorientierten Unterrichtsformen widersprechen dem Zeitgeist unserer Kinder heute.

Die praktische Umsetzung

1. Die Lehrer:

Jedes Kind ist ein Kunstwerk, an dem man sich erfreuen kann, das man fürsorglich und pfleglich behandeln muss. Es wird den Lehrern zur Formvollendung übergeben. Jeder Fehlgriff kann ein Chaos auslösen. Kinder brauchen vor allem die Sensibilität und das Einfühlungsvermögen des Lehrers. Er soll dem Kunstwerk „Kind“ zu noch mehr Glanz verhelfen, oder anders ausgedrückt, seine schlummernden Schönheiten und besonderen Merkmale und Qualitäten zur Wirkung bringen, jedoch nicht verändern oder verformen wollen.
Lehrer müssen die Kinder dort abholen, wo sie sich befinden, sie müssen in die Kinder lauschen, sie müssen sich von ihrer Neugier und von ihrer Lust, die Welt entdecken und erforschen zu wollen, anstecken lassen. Sie müssen den Kindern vertrauen, abwarten und beobachten können und einfach nur da sein, wenn die Kinder sie brauchen.

2. Die Eltern:

Kinder brauchen Eltern! Kinder brauchen unendlich Liebe, Wärme, Geborgenheit, Verständnis und jede Menge Zeit! Sie brauchen keine Pseudomanager ihrer Karriere, sie wollen ihren Weg selbst finden und gestalten dürfen. Sie brauchen jemanden, der mit ihnen lachen und weinen kann, verrückte Sachen macht, sich von außen betrachtet und über sich selbst lachen kann. Sie brauchen jemanden, der zuhören kann und will, der sie nicht kritisiert und stattdessen Alternativen aufzeigt, der ihnen Mut macht. Kinder brauchen eine gewaltfreie Erziehung ohne Bevormundung und Manipulation, in Liebe und mit Zuversicht.
Eltern, die ihre Kinder auf dem Weg in die Zukunft begleiten wollen, öffnen ihren Kindern die Türen nach außen und helfen ihnen, die richtigen Wege zu finden. Verantwortungsvolle Eltern boykottieren und attackieren nicht, sie suchen gemeinsam mit den anderen Erziehern nach am Kind orientierten, zukunftsweisenden Lösungen, sie blicken über ihren Tellerrand hinaus und gestalten konstruktiv am Gemeinwesen.
Nur im konstruktiven Zusammenwirken aller Kräfte kann Großes bewirkt werden und kann der Weg aus der Sackgasse „Schule heute“ gefunden werden!
(Siehe auch: Hans-Joachim Hepke, „Hilf mir, ich bin doch dein Kind“, tredition, Hamburg)

Praktische Umgestaltung – konkrete Anregungen

1. Äußere Rahmenbedingungen/Organisation:

– Alle Klassenzimmer einer Jahrgangsstufe werden auf einem ff. Flur angeordnet.
– Ein Elternsprechzimmer, in dem sich alle Parteien in einem positiven Ambiente gegenübersitzen können, wird eingerichtet.
– Der Pausenhof wird in unterschiedliche Ruhe- und Aktivzonen (Hüpfspiele, Ballspiele, Ruhezone etc.).
– Die Klassenzimmer werden zu Wohnräumen umgestaltet, in den für alle Sozialformen Angebote (Gesprächskreis, Gruppenarbeiten, Frontalunterricht etc.) möglich sind.

2. Tagesabläufe:

– Es gibt eine offene Komm-Phase (ca. 30/45 Minuten), die Schülern und Lehrern Zeit für individuelle Gespräche einräumt.
– Jeder Tag beginnt mit einem Gesprächskreis, in dem die organisatorischen Abläufe des Schultages und ebenso das geplante Arbeitspensum besprochen werden.
– An den Gesprächskreis schließt sich das gemeinsame Frühstück an. Die spätere Pause dient ausschließlich der Bewegung und Kommunikation.
– Der Unterricht wird mit der „Zeit der offenen Klassenzimmertür“, in der die kognitiven Fachbereiche erarbeitet werden fortgesetzt. In dieser Phase können die Kinder Lehrer und Klasse, sprich Stoffauswahl, auswählen, mit denen sie arbeiten wollen. Sie dauert 2,5 Stunden.
– Nach dieser intensiven Arbeitsphase findet die „Aktivpause“ (30 Min) statt.
– Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es kein Glockenzeichen o.ä.
– Nach der großen Pause wird in individuelle Arbeitsformen die vorangegangene Arbeit zu Ende geführt, bzw. werden praktische Lernbereiche durchgeführt.
– Nach einer kurzen Pause schließen die musischen Fachbereiche den Tag ab.
– In einem Gesprächskreis werden Fragen und Probleme aufgegriffen und eine Tageszusammenfassung gemeinsam besprochen.
– An den Nachmittagen werden zahlreiche Kurse zu den Bereichen Gestalten, Kunst, Musik und Sport und vertieftes soziales Lernen angeboten.
(Siehe auch: Hans-Joachim Hepke, „Eine Schule für morgen“, tredition, Hamburg)

Veränderte Schulform

1. Die „Schule heute“ muss eine Schule für ALLE sein. Integration und Inklusion werden gelebt und realisiert. Statt an der überfälligen Förderschule für Lernbehinderte haben die entspr. Lehrkräfte ihren Platz in den Auszeitklassen der Regelschule.
2. Alle Übergänge sind fließend und nicht an Notenzeugnisse gebunden. Es gilt gemeinsame Lösungen zum Wohle des Kindes zu finden, statt auszusortieren!
3. Bis einschließlich der 10.Klasse gibt es keine Notenzeugnisse etc.! Im offenen System kann nach allen Richtungen durchlässig die Schullaufbahn fortgesetzt werden. Die Altersgrenze der 10.Klasse ist mit 18 Jahren erreicht. Weitere Laufbahnmöglichkeiten siehe in „Eine Schule für morgen“!

Zusammenfassung:

Orientiert an der Reformpädagogik werden aus allen alternativen Schulformen bewährte Teilelemente in die Regelschule übertragen. Die „Schule heute“ lebt, wir müssen ihr nur neue Luft zum Atmen geben!

Der Autor

Hans-Joachim Hepke, R a.D., 1952 in Amberg/Opf. geboren, seit 1975 im Schuldienst, seit 1985 Konrektor und seit 1992 Rektor einer großen Grundschule und Lehrbeauftragter an der Universität Augsburg. Danach u.a. psychologischer Berater an einer Heimvolksschule für verhaltensauffällige Jungen und Arbeit an einer Montessorischule. Ab 2008 Auslandsschuldienst in Istanbul, Izmir, Mexico-City, Puebla und San Luis Potosi (in Mexico). Autor der wöchentlichen Kolumne „Niños-Padres-Escuela“ in der Internetzeitung „El Angel Metropolitano“ zu Fragen und Problemen der Erziehung.

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