Die Auflösung der Haupt- und Realschule zugunsten der Gesamtschule ist ein bedeutender Reformschritt

    In diesem Blogbeitrag veröffentlichen wir die Analyse von Joachim Lohmann (deutscher Erziehungswissenschaftler, ehemaliger Kieler Stadtschulrat, bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und Staatssekretär in Schleswig-Holstein sowie Vorsitzender der GGG – Verband der Schulen des gemeinsamen Lernens, früher: GGG – Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule.) zum Thema „Die Auflösung der Haupt- und Realschule zugunsten der Gesamtschule ist ein bedeutender Reformschritt“.

    Aber erst mal vorweg:

    So sieht es in Bayern aus

    Die bayrische Regierung stellt sich gegen ein gemeinsames längeres Lernen. Die Selektion nach Jahrgangsstufe 4 wird als ‚begabungsorientiert‘ weiter verfolgt und vehement verteidigt. Wissenschaftliche Belege, dass längeres gemeinsames Lernen besser wäre, werden vehement bestritten.
    Im öffentlichen bayrischen Schulsystem gibt es dennoch 5 Schulen, die man als Schulen besonderer Art zulässt. Das war’s aber dann auch, was man in Bayern im öffentlichen Schulwesen zum Thema Gemeinschaftsschulen finden kann.

    • Integrierte Gesamtschule

    In der integrierten Gesamtschule (Staatliche Gesamtschule Hollfeld; Städtische Willy-Brandt-Gesamtschule München), die die Jahrgangsstufen 5 bis 10 umfasst, bzw. in der schulartunabhängigen Orientierungsstufe (Städtische schulartunabhängige Orientierungsstufe München-Neuperlach mit den Jahrgangsstufen 5 und 6) wird das Unterrichtsangebot in einem System von Kursen organisiert. Die Schüler erhalten das Profil ihrer Schullaufbahn durch die gewählten Wahlpflichtkurse und durch die Leistungsstufe in einzelnen differenzierten Kursen. Spätestens ab der Jahrgangsstufe 9 werden schulartbezogene Klassen eingerichtet.

    • Kooperative Gesamtschule

    Die kooperative Gesamtschule (Senefelder-Schule Staatliche Gesamtschule Treuchtlingen; private staatlich anerkannte Evangelische kooperative Gesamtschule Wilhelm-Löhe-Schule Nürnberg) umfasst ebenfalls die Jahrgangstufen 5 bis 10 und vermittelt in pädagogischer und organisatorischer Zusammenarbeit von Mittelschule, Realschule und Gymnasium Lernziele und -inhalte dieser Schularten. Deren Bildungsgänge mit ihren Abschlüssen bleiben erhalten.

    Wir von Eine Schule für Alle in Bayern e.V. setzen uns dafür ein, dass es auch Gemeinschaftsschulen in Bayern geben wird. Wir schauen dabei sehr genau in unser Nachbarbundesland Baden-Württemberg, wo seit einigen Jahren Gemeinschaftsschulen ermöglicht wurden. Und es gibt dort sehr erfolgreiche Umsetzungen, wie z.B. der deutsche Schulpreisträger von 2019, die Gemeinschaftsschule Wutöschingen belegen.

    Hier nun die Analyse von Joachim Lohmann.
    Wir veröffentlichen Präambel und das Abschlusskapitel hier im Blogbeitrag.
    Die gesamte Analyse könnt Ihr hier als PDF herunterladen: Nicht Schule, Gesellschaft-Struktur entscheidet 1113

    Präambel

    In den 5 Bundesländern Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland und Schleswig-Holstein sind Haupt- und Realschule zugunsten der Gesamtschule(1) aufgehoben worden. An die Stelle des hierarchischen, selektiven Schulsystems ist das Konkurrenzsystem mit Gesamtschule und Gymnasium getreten.

    Das Konkurrenzsystems wirkt sich in zwei Phasen aus:

    • in der Phase eins treten die direkten, unmittelbaren Folgen der Strukturreform auf,
    • die Phase zwei entwickelt sich längerfristig; sie führt zu einem Systemwandel der Schulen durch die Änderungen des Bewusstseins, der Einstellungen und des Verhaltens. Gründe sind die anderen Ziele und Abschlüsse der neuen Schulform, die andere personelle Zusammensetzung des Kollegiums und der Schüler*innen sowie das gewandelte Ansehen der Schule und aller Beteiligten.

    Die Durchsetzung des Konkurrenzsystems ist ein erheblicher Erfolg. Das belegen die Daten der Begleitforschungen in den Bundesländern Berlin und Bremen. Schon in der unmittelbaren Strukturreformphase

    • stiegen die qualifizierten Abschlüsse sowie der Besuch der Oberstufe bei den Schüler*innen sprunghaft an und
    • erhielten auch sozial benachteiligte Jugendliche deutlich höhere Abschlüsse.

    Wie die Begleitforschung dagegen diese Daten interpretiert, ist äu0erst problematisch. Zugleich meint sie, erst längerfristig eintretende Wirkungen eines Systemwandels – wie Leistungssteigerungen – schon kurzfristig überprüfen zu können.

    Wenn man schon jetzt Leistungsentwicklungen abschätzen will, sollte man stattdessen auf die PISA- Vergleiche zwischen den Staaten zurückgreifen, denn sofern die Staaten integrierte Schulsysteme realisiert haben, liegen deren Strukturreformen zumeist Jahrzehnte zurück.

    Das Konkurrenzsystem ist ein Zwischenschritt zur gemeinsamen Schule für alle

    Das Konkurrenzsystem ist eine neue Durchsetzungsstrategie. 5 Bundesländer haben kurz nach einander die gleiche Strategie verfolgt, zwei weitere haben ebenfalls einen bedeutenden Sprung mit einem alternativen Vorgehen gewagt. Zusammengenommen bedeuten die Reformen quantitativ den größten Erfolg der Gesamtschule in ihrer Geschichte – innerhalb von jedem der 5 Bundesländer, aber selbst für Deutschland insgesamt.

    In den 5 Bundesländern ist die Gesamtschule von einem Appendix des dreigliedrigen Hierarchiesystems zur gleichberechtigten Alternative zum Gymnasium geworden. Quantitativ hat sie das Gymnasium überholt. In den 5 Ländern besuchen mehr als die Hälfte aller 8.-Klässler die Gesamtschule, in Bremen sogar fast drei Viertel.

    War die Reform in den 5 Bundesländern eine Reform von oben, so haben Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg eine Strategie von unten gewählt. In beiden Ländern wurde die Pflicht von Schulträgern aufgehoben, weiterführende Schulformen anzubieten. In Nordrhein-Westfalen konnten die Schulträger über die Errichtung und in Baden-Württemberg die Schulen mit den Schulträgern über die Umwandlung von Schulen zur Gesamtschule entscheiden. Dort entstanden 200 bzw. 300 Gesamtschulen innerhalb einer Legislaturperiode.

    Die Top-down-Strategie der 5 Bundesländer und die Bottom-up-Strategie in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zusammen führten dazu, dass die Gesamtschule bundesweit – statt eines Nischendaseins mit nur gut 8 % der 8.-Klässler bis nach der Jahrhundertwende – nun fast 20 % der 8- Klässler beschult. Innerhalb von 10 Jahren sackte bundesweit die Realschule um gut ein Drittel und die Hauptschule um die Hälfte ab, keine 10 % der Schüler besuchen noch die Hauptschule. Bundesweit wurde die Gesamtschule zur zweitstärkst besuchten Schulform nach dem Gymnasium.

    Mit dem Erfolg der Gesamtschulen sind die Bildungschancen für die Schüler*innen allgemein wie für die sozial benachteiligten enorm gestiegen: ihre Berufs- und Lebenschancen haben sich erheblich verbessert.

    So stieg der Anteil der Gesamtschulschüler*innen mit mindestens mittlerem Abschluss in Bremen um fast 15 % an. Gut 70 % mehr als früher erwarben in Berlin die Oberstufenberechtigung und um mindestens die Hälfte stieg der Besuch der Oberstufe an.

    Die Reform war nicht nur ein pädagogischer, sondern vor allem auch ein sozialer Erfolg. So stieg in Berlin innerhalb eines Altersjahrganges der Anteil der Kinder von Eltern mit Abitur nur um einen einstelligen Prozentsatz, der von Kindern, deren Eltern höchstens den Hauptschulabschluss erwarben, dagegen um einen hohen zweistelligen Prozentsatz an. In Bremen gingen aus den sozial benachteiligten Wohnquartieren 40 % mehr Schüler*innen in die Oberstufe über, aus den sozial privilegierten Quartieren waren es 20 %.

    Die Begleitforschung wendet dagegen ein, dass sich die Schulleistungen durch die Reform nicht verbessert hätten. Doch deren Verbesserung hängt vom Wandel der Einstellungen, Haltungen und Fähigkeiten der Lehrkräfte ab. Diese Lernprozesse kommen nicht kurz-, sondern erst längerfristig zur Geltung. Eine Begleituntersuchung kann diesen Effekt zurzeit noch nicht feststellen.

    Nun befürchten manche Gesamtschulanhänger, dass die Erfolge des Konkurrenzsystems als so groß eingeschätzt werden könnten, dass die Bereitschaft verloren geht, die gemeinsame Schule für alle durchzusetzen.

    Diese Einschätzung trifft weitgehend für Spitzenpolitiker zu – sowohl für die konservative als oft auch für die progressive Seite. Doch die Ablehnung eines integrierten Schulsystems vertraten die politischen Führungen auch schon vor der Etablierung des Konkurrenzsystems – und trotzdem hat es sich in 5 Bundesländern durchgesetzt.

    Denn die Politik und erst recht das politische Establishment entscheiden in einer gesellschaftlichen Demokratie nicht alles.

    Eine endgültige Stabilisierung des Konkurrenzsystems wird der Politik nicht gelingen, denn es ist nicht zukunftsfähig: Es ist eine staatliche Institution ohne ideelle Rechtfertigung, es ist antagonistisch sowohl gedanklich als auch soziologisch. Als staatliche Einrichtung wird sie dem gesellschaftlichen Druck nicht standhalten.

    Ideell konnte das dreigliedrige Hierarchiesystem– im Gegensatz zum Konkurrenzsystem – zumindest mit ideologisch versteinerten Begabungsunterschieden die Selektivität zu rechtfertigen versuchen.

    Im Konkurrenzsystem stehen sich jetzt gegenüber:

    • ein Gymnasium, das weiterhin auf Begabung, Leistung wie Leistungswille setzt und auf dem Recht einer Übergangs- wie innerschulischen Auslese besteht, und
    • eine Gesamtschule, die grundsätzlich alle fördern und befähigen, Stigmatisierung wie den Glauben an weitgehend vererbte Intelligenz und Begabung überwinden und soziale, ethnische und sonderpädagogische Benachteiligungen reduzieren will.

    Gesellschaftlich unterscheiden sich im Konkurrenzsystem

    • ein Gymnasium, das Bildungsschichten den sozialen Status sichern und sich vor sozial und ethnisch Benachteiligten sowie Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf abschirmen will, und
    • eine Gesamtschule, die die gleichen Abschlüsse verfolgt, pädagogisch schülerorientiert arbeitet und weit überproportional Schüler*innen mit besonderen Herausforderungen beschult.

    In diesem Antagonismus besteht ein strukturelles Konfliktpotential. Die Konflikte werden die Schulleiter und Lehrkräfte der Gesamtschule austragen, die sich gegen die einseitigen sozialen, ethnischen und sonderpädagogischen Herausforderungen ihrer Schule stellen sowie sich gegen die Abschulung von Gymnasiasten wehren werden, die vom Gymnasium als ungeeignet den Gesamtschulen überlassen werden.

    Auch wird der Bildungswille der bildungsbenachteiligten Eltern an der bestehenden Zweiklassen- Bildung rütteln. Immer mehr Eltern werden statt der 9- bzw. 10-jährigen Grundbildung auf einer qualifizierten 12- bzw. 13-jährigen Allgemeinbildung bestehen. Sie werden auf Grund des wirtschaftlichen und technischen Wandels eine qualifizierte Hochschul-Ausbildung statt nur einer dualen Berufsausbildung anstreben. Gegen eine Politik, die weitgehend unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung für ein Beibehalten der Zweiklassen-Allgemein- wie Berufsausbildung kämpft, wird auch hier der Bildungswille längerfristig obsiegen.3

    Zudem wird sich das gesellschaftliche Bewusstsein gegenüber Gesamtschulen und dem Schulsystem insgesamt wandeln. Einen überraschend starken Wandel haben die Gesamtschulen als Appendix der Dreigliedrigkeit bereits erreicht.

    Der quantitative Ausbau wird diesen Bewusstseinswandel verstärken, und die Änderung der Einstellungen und Verhaltensweisen in der Gesamtschule werden zusätzlich die Meinungsbildung beeinflussen. Je mehr Jugendliche die Gesamtschule zu qualifizierten Abschlüssen führt, um so skeptischer werden größere Teil der Gesellschaft gegenüber der Selektivität.

    Die Durchsetzung einer gemeinsamen Schule für alle wird dauern, und es wird Rückschläge geben.

    Es wird sicher gesellschaftliche Kräfte geben, die sich einer gemeinsamen Schule für alle entziehen werden, ein Teil entzieht sich schon jetzt dem heutigen Gymnasium, das ihnen zu egalitär ist.

    Trotz aller politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Widerstände hat nur die gemeinsame Schule für alle langfristig eine Zukunft.

    Erklärungen:

    (1) Da für Schulen des gemeinsamen Lernens in Deutschland 9 verschiedene Bezeichnungen bestehen, die in Bundesländern teilweise noch andere Schulformen bedeuten, wird einheitlich die Bezeichnung Gesamtschule für die Schulen des gemeinsamen Lernens gewählt.

    Neue Blogbeiträge