Liebes Schulsystem,

    mein Kind hat einfach keine Lust auf Dich. Es tut mir leid, Dir das so unverblümt sagen zu müssen, aber Du machst meinem Kind einfach wenig Freude.

    Bereits in der 1. Klasse wo die Aufregung und Vorfreude auf Dich so groß war, hast Du es sehr schnell – zu schnell! – geschafft, dass mein Kind diese Vorfreude verlor. In den mittlerweile 9 Jahren konntest Du dies nicht wieder aufholen und ich befürchte, auch in den folgenden Jahren wird sich daran nicht mehr viel ändern. Aber Du darfst mich natürlich gerne eines Besseren belehren…

    Rede Romy Stangl Statt die Wissbegier zu nutzen und auf vielen bunten Wegen Deine Themen näherzubringen, hast Du durch wenig abwechslungsreiche Übungen Langeweile und Unlust geschaffen.

    Warum hast Du jedes Kind für sich alleine arbeiten lassen, statt in gemeinsamen Gruppen und Projekten die Kompetenzen der verschiedenen Kinder zusammenzubringen, so dass sie gemeinsam voneinander profitieren, gemeinsam lernen und gemeinsam entdecken?

    Warum nutzt Du nicht die bunte Vielfalt der Kinder, damit sie gegenseitig voneinander profitieren?

    Stattdessen beschäftigst Du Dich am liebsten mit den Kindern, die sich gut anpassen können, eine schnelle Auffassungsgabe haben, in Deinen Augen unkompliziert sind und schnell selbstständig Aufgaben abarbeiten können. Viel zu früh stempelst Du die Kinder, die nicht dem vorgegebenen Tempo entsprechen, die mehr Zuspruch und Motivation benötigen, die andere Lernmethoden gebrauchen könnten, ab.

    Rede von Romy Stangl während des Bildungsprotestes am 23. September 2023 in München. Zwischenkundgebung am Wittelsbacher Platz.
    (c) Romy Stangl, Mutter und Bezirksvertreterin für München Stadt und Land des Bayerischen Landeselternverbandes für Realschulen e. V. www.lev-rs.de

    Allzu schnell hast Du festgestellt, dass viele Kinder nicht so funktionieren, wie Du es gerne hättest. Viele Kinder laufen nicht einfach in der Masse mit, sondern zeigen, dass sie keine Lust auf Dich haben. Sie wollen erst einmal ankommen, neue Menschen kennenlernen, sich mit einer vollkommen neuen Situation anfreunden und sehr gerne lernen. Aber Dir war und sind viele Kind er zu langsam und manchmal auch zu zeitintensiv.

    Daher ist für Dich klar, sie brauchen Förderung. Noch mehr langweilige Stunden mit eben denselben Methoden, die nicht auf die verschiedenen Lerntypen und schon gar nicht auf die Kompetenzen der Kinder eingehen.

    Liebes Schulsystem, ist Dir bewusst, dass es viele verschiedene Lerntypen gibt? Dass Du viel mehr Kinder erreichen kannst, indem Du verschiedenste vielseitige Methoden anwendest, die sowohl visuell, auditiv, motorisch als auch kommunikativ, die Lernlust der Kinder fördern. Weil sie verstehen, was Du ihnen thematisch näher bringen möchtest? Dass du diverse Medien nutzen kannst, um eben diese Typen anzusprechen, ihre Lust einzufangen?

    Auch wenn es Dir bewusst sein mag, habe ich den Eindruck, dafür ist kein Platz. Wie Du anscheinend schnell (entschuldige, dies ist mein persönlicher Eindruck), vielen motivierten und engagierten Lehrkräften aufzeigst. Die sich dann häufiger als gewünscht Deinen Vorstellungen ganz- oder teilweise ergeben (müssen) oder sich umorientieren.

    Du willst kategorisieren und jedes Kind einem vorgegebenen Ordnungssystem unterwerfen. Du verteiltest Stempel für alle Aufgaben und entweder erhält man ein Krönchen oder einen traurigen Smiley. Du bewertetes tägliches Verhalten mit den Farben rot, gelb, grün. Du benotest beständig Leistungen und dies ist das Einzige was zählt.

    Ehrlich? Was denkst Du, was dies mit jungen Menschen macht?

    Stelle Dir einmal vor, wir würden Dich tagtäglich in dieser Form bewerten? Wenn Du immer einen grünen Stempel, ein Krönchen bekommst oder Einser-Kandidat wärst, würdest Du Dich sicherlich freuen und wärst stolz. Was jedoch, wenn dies nicht der Fall ist? Du durchschnittlich mangelhaft bewertet wirst oder einen orangenen, traurigen Smiley Stempel erhältst? Wie würdest Du Dich dann fühlen?

    Würde es Deine Lernlust steigern, Dein Selbstwertgefühl? Oder kann es sein, dass Dich dieses Demotivieren gar in der Selbstwirksamkeit einschränken würde?

    Je länger mein Kind Dich besucht, desto häufiger frage ich mich: Ist dir bewusst, dass eine Gesellschaft von der Vielfalt der Menschen und ihren Kompetenzen lebt? Dass Du und die Gesellschaft davon profitieren, wenn es kleine und große Menschen mit künstlerischen, handwerklichen, sozialen, mathematischen, naturwissenschaftlichen, musikalischen, literarischen, sprachlichen und anderen Fähigkeiten gibt?

    Dass Du nicht eine graue Masse brauchst, die besonders anpassungsfähig ist, Dir alles recht macht und so wenig zeitintensiv ist wie möglich?

    Liebes Schulsystem, ganz ohne Deine Mithilfe übernehme ich tagtäglich meine Aufgabe als Elternteil, mein Kind in seiner Selbstwirksamkeit, seinem Sein zu bestätigen. Seine Kompetenzen zu fördern, es zu ermutigen, es in all seinen Facetten zu lieben und anzunehmen. Meinem Kind zu sagen, dass es eben genau so wie es ist, gut ist und dass Deine Kategorisierungen und Einordnungen nichts über es als Menschen und seine Kompetenzen aussagen.

    Liebes Schulsystem, erinnere Dich, Du hast jeden einzelnen Tag die Chance Dich zu verändern, von jungen Menschen und ihren Bedürfnissen zu lernen.

    Bisher hast Du die vielen Chancen nicht bzw. zu wenig genutzt, die Dir mein Kind, und viele andere Kinder, aufgezeigt haben. Doch leider bleibst Du allzu oft starr und leider viel zu zeitintensiv.

    Schade. Traurig. Und irgendwie zum Verzweifeln.

    Eine Benotung möchte ich Dir mit heutigem Stand gerne ersparen. Ich denke dies wäre für Dein Selbstbewusstsein nicht unbedingt förderlich.

    Fakt ist unsere Gesellschaft erlebt aktuell eine der schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik. Ein enormer und sich vergrößernder Mangel an Lehrer*innen und Erzieher*innen trifft auf ein veraltetes, unterfinanziertes und segregiertes Bildungssystem, das sozial ungerecht ist.

    Ich bin Teil des bundesweiten Appells Bidlungswende jetzt weil das deutsche Bildungssystem in einer tiefen Krise steckt die uns alle betrifft. Zeit ist jetzt gemeinsam für unsere Kinder eine bessere gerechtere und inkusivere Bildung einzufordern.

    Ich wünsche mir, dass Schule in Bayern, in Deutschland zu einem besonderen Ort wird. Zu einem Ort persönlicher Entfaltung und Bereicherung sowie individueller Wahrnehmung und Förderung. Zu einem Ort, an dem ein inspirierendes und respektvolles Miteinander gelebt wird und aus dem unsere Kinder als starke Persönlichkeiten hervorgehen, die ihren weiteren Lebensweg voller Selbstvertrauen und Freude antreten können.

    Rede von Romy Stangl während des Bildungsprotestes am 23. September 2023 in München. Zwischenkundgebung am Wittelsbacher Platz.
    (c) Romy Stangl, Mutter und Bezirksvertreterin für München Stadt und Land des Bayerischen Landeselternverbandes für Realschulen e. V.
    ( www.lev-rs.de)


    Am 23. September 2023 sind bundesweit ca. 25.000 Menschen auf die Straße gegangen, um für mehr Bildungsgerechtigkeit, für zukunftsfähige und inklusive Bildung zu demonstrieren.

    Demo Bildungswende Jetzt in München

    Weitere Informationen zur bundesweiten Initiative ‚Bildungswende Jetzt!‘ findest Du unter

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