Mit Ignoranz die bildungs-

    politische Restauration ausrufen

    In der Schulakademie und von konservativen Lehrerverbänden wird über eine Studie von Esser und Seuring berichtet, die nachweise, dass strikte Leistungsauslese und homogene Klassen leistungssteigernd seien. Artikel lesen. Darin werden Integration und Inklusion und gar das Elternrecht beim Zugang zum Gymnasium strikt abgelehnt.

    Wir kritisieren diese von vorurteilsgeladenen Soziologen verfasste Studie aufs Schärfste. Sie ist nicht nur fehlerhaft, sondern wird jetzt von konservativen Lehrerverbänden, wie dem bayrischen Realschullehrerverband als Argument für eine schulpolitische Restauration benutzt.

    Wir veröffentlichen hier einen Stellungnahme / Artikel von Joachim Lohmann, der zur Studie unter anderem subsummiert: „Es ist eine Binsenwahrheit, dass die nach Leistung sortierten Klassen auch leistungsstärker sind. Doch dieses Ergebnis liegt nicht daran, dass die Homogenität bessere Leistung erzielt, sondern die Selektion die leistungshomogeneren Schulen bzw. Klassen bewirkt. Empirie braucht nicht nur Statistik, sondern auch Fachverstand.  Diesen vermisst man bei diesem Artikel.“

    Joachim Lohmann, deutscher Erziehungswissenschaftler und ehemaliger Kieler Stadtschulrat, bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und Staatssekretär in Schleswig-Holstein sowie Vorsitzender der GGG – Verband der Schulen des gemeinsamen Lernens, früher: GGG – Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule

    Mit Ignoranz die bildungs-

    politische Restauration ausrufen 

    Joachim Lohmann

    20.03.2021

    Die Soziologen Esser und Seuring proklamieren die schärfste bildungspolitische Wende seit Jahrzehnten. Schulpolitisch wollen sie die Restauration der 50er Jahre.

    Ihre empirische Grundlage beruht auf einer überholten Gruppierung der Bundesländer, auf einer unreflektierten strukturellen Schematisierung und einer sozialdarwinistischen Rechtfertigung der sozialen Leistungsdiskriminierung.

    Esser und Seuring lehnen nicht nur Integration und Inklusion, sondern auch das Elternrecht beim Zugang zum Gymnasium ab, sie wollen zurück zu strikter Leistungsauslese und homogener Klassenbildung – selbst bei den Leistungsschwächeren.

    Eine schulpolitische Restauration der 50er Jahre

    Der Artikel von Esser und Seuring ist unter dem Titel „Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Ungleichheiten“ in Heft 5-6 der Zeitschrift für Soziologie im Jahre 2020 erschienen. Er fußt auf einer bundesweiten Lernstandserhebung der 7. Klässler mit Daten aus der „National Educational Panel Study“ des Jahres 2012 (289). Getestet wurde Leseverstehen und Mathematik.

    Die Untersuchung ist statistisch hochelaboriert. Mit den daraus gewonnenen Daten rechtfertigen sie äußerst weitgehende schulpolitische Schlussfolgerungen. Die Autoren wenden sich gegen schulische Integration, erst recht gegen Inklusion. Stattdessen fordern sie strikte Leistungsauslese und homogene Klassenbildung.

    Die Grundschule soll verbindlich über die Aufnahme verfügen.  Um talentierte Kinder aus „unteren Schichten“ zu fördern, sollen sie gegen ihre zu vorsichtigen Eltern an das Gymnasium versetzt werden. Das heißt, das Elternrecht soll aufgehoben und die Liberalisierung des Übergangs auf das Gymnasium rückgängig gemacht werden. Das „Verbot der positiven Auslese“ soll beendet und die Schule wieder autoritär entscheiden:

    „Die bildungspolitischen Schlussfolgerungen für das deutsche Bildungssystem liegen … eigentlich auf der Hand: Nicht die weitere Öffnung und Abkehr von den Kriterien der Leistungsdifferenzierung hilft die Effizienz des Bildungssystems zu steigern und die sozialen (und ethnischen) Bildungsungleichheiten zu dämpfen und sogar zu senken.  …Dazu (zur stärkeren Orientierung auf Leistungsdifferenzierung) würde insbesondere gehören, dass Fehlplatzierungen bei der Sortierung möglichst ganz vermieden werden, über genauere Empfehlungen ebenso wie über die Verbindlichkeit, die Aufhebung des „Verbots der positiven Auslese“, das in der geltenden Form dafür sorgt, dass gerade die talentierten Kinder aus den unteren Schichten mit Gymnasialempfehlungen ihre Chancen nicht bekommen, weil die Eltern oft zu vorsichtig sind, aber auch die Schaffung von Anreizen und Strukturen für einen engagierten und fokussierten Unterricht über eine stärkere Kontrolle der schulischen Abläufe, über Standardisierung, regelmäßige Evaluationen und Zentralisierung, wo es das noch nicht gibt.“ (Esser, S. 297 f.).[1]

    Selbst ohne Berücksichtigung der horrenden Fehler nur dünne Belege

    Begründet wird die bildungspolitische Restauration mit einem sehr schwachen statistischen Ergebnis; dabei ist das zugrunde gelegte Stringenzmodell der Ländergruppierung falsch, die Aussage zur Homogenität unrichtig und die genetische Begründung sozialer Benachteiligungen überholt.

    Die Begründung für die bildungspolitische Rolle rückwärts ist tollkühn. Für Esser und Seuring ist die Liberalisierung der Übergangsauslese die Ursache der schulischen Leistungsunterschiede zwischen den Bundesländern.

    Selbst wenn das zugrunde liegende Modell und die Interpretationen von Esser und Seuring tragfähig wären, könnten sie statistisch gerade einmal 2 % der Leistungsdifferenzen der Bundesländer erklären. Auch dann wären die statistischen keineswegs schon kausale Zusammenhänge. Dazu müsste nachgewiesen werden, dass die statistischen Ergebnisse nicht auf anderen Zusammenhängen beruhen können. Bei Esser und Seuring fehlt eine umfassende Auseinandersetzung mit möglichen anderen Ursachen für die festgestellten Korrelationen. Mit einer vermeintlich 3-%igen Aufklärung bildungspolitisch eine Restauration zu fordern, ist mehr als vermessen.

    Aus überholter Ländergruppierung falsche Schlüsse ziehen

    Esser und Seuring haben versucht, die Auswirkungen einer liberalen Schulpolitik auf die Leistungen der Schüler*innen zu analysieren. Sie verglichen dazu die Leistungen der 7.-Klässler mit deren kognitiven Fähigkeiten (Intelligenz).  Um die Bundesländer zu bewerten, gruppierten sie die Länder in 3 Gruppen von strikt über halbliberal bis liberal. Dazu übernahmen sie das Modell von Helbig und Nikolai.

    Dieses Modell gruppiert die Länder danach, wie stark die Länder einerseits strukturell hochschulpropädeutische Bildungsgänge neben dem Gymnasium geschaffen und andererseits rechtlich die Übergänge ins Gymnasium liberalisiert haben.

    Mit der Anwendung dieses Modells belegten Esser und Seuring, dass die strukturelle und rechtliche Liberalisierung der Hochschulpropädeutik die Ursache der Leistungsunterschiede zwischen den Bundesländern sei.

    Doch das Gruppierungsmodell von Helbig und Nikolai war inzwischen überholt. 5 Bundesländer hatten sich zu der Zeit bereits vom dreigliedriges Hierarchiesystem verabschiedet und das 2-säulige Konkurrenzsystem geschaffen. In den Ländern Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland und Schleswig-Holstein[2] bereiteten jetzt alle allgemeinen Sekundarschulen auf das Abitur vor – ohne die Schüler*innen in getrennte Klassen und häufig ohne sie in Fachleistungskurse zu sortieren.

    Das 2-säulige Konkurrenzsystem ist ein totaler Gegensatz zu den Forderungen von Esser und Seuring. Die 5 Länder schotten die hochschulpropädeutischen Bildungsgänge nicht mehr vor den „Leistungsschwächeren“ ab, sondern öffnen allen Schüler*innen, allen Klassen und allen allgemeinen Sekundarschulen den gymnasialen Bildungsgang. Diese 5 Länder fallen damit völlig aus dem Rahmen des von Esser und Seuring verwendeten Modells heraus. Ihre Liberalität kann nicht mit den liberalen Ländern wie Hessen oder Nordrhein-Westfalen gleichgesetzt werden und erst recht nicht mit den Ländern aus der halbliberalen Gruppe. Die Länderzuordnung ist unrichtig und die statistischen Ergebnisse damit falsch.

    Die leistungssteigernde Homogenität beruht auf Ignoranz

    Esser und Seuring haben zusätzlich auch die Leistungsauswirkung von homogenen versus heterogenen Schulklassen zu analysieren versucht. Sie haben dafür die Klassen in über- bzw. unterdurchschnittlich intelligente sowie in eher homogene bzw. heterogene Klassen aufgeteilt.

    Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass bei überdurchschnittlich intelligenten Klassen die Zusammensetzung egal ist, bei unterdurchschnittlichem kognitiven Niveau haben die leistungsstärksten Klassen eine homogene Zusammensetzung.

    „Die strikte Differenzierung ist, verbunden mit einer hohen kognitiven Homogenität der Schulklassen, offenbar gerade etwas für die Kinder in den unteren Bildungswegen.“ (296).

    Esser und Seuring unterstellen mithin, dass die Leistungsstärke bei den intelligenzschwächeren Klassen an der Homogenität liege. Diese Interpretation ist falsch. Grund ist vielmehr, dass Esser und Seuring die Schulstruktur der Bundesländer in der Sekundarstufe I nicht analysierten. Sie haben alle Nicht-Gymnasien in einer Menge zusammengefasst. Doch die Schulstruktur der Nicht-Gymnasien zwischen den Bundesländern unterscheidet sich erheblich.

    Die Nicht-Gymnasien bestehen

    • in den 5 Bundesländern mit dem 2-säuligen Konkurrenzsystem nur aus Gesamtschulen,
    • in den restlichen westlichen Bundesländern zumeist aus Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen und
    • in den östlichen Flächenländern – neben Gesamtschulen – aus Schulen mit zwei Bildungsgängen, deren Schüler*innen überwiegend in getrennten Zügen (Klassen) unterrichtet werden.

    Die Menge der Nicht-Gymnasien in Deutschland ist mithin eine Mixtur vieler unterschiedlicher Schulformen sowie aus nach Leistung zusammengesetzter Klassen. Sie bildet auch den größten Teil der Schulen mit unterdurchschnittlichem Intelligenzniveau. In den unterdurchschnittlich intelligenten Schulen bzw. Klassen sind die leistungsstärkeren Schulen bzw. Klassen vor allem diejenigen, die ihre Schüler*innen auswählen konnten – im dreigliedriges Hierarchiesystem sind das die Realschulklassen.

    Es ist eine Binsenwahrheit, dass die nach Leistung sortierten Klassen auch leistungsstärker sind. Doch dieses Ergebnis liegt nicht daran, dass die Homogenität bessere Leistung erzielt, sondern die Selektion die leistungshomogeneren Schulen bzw. Klassen bewirkt.

    Empirie braucht nicht nur Statistik, sondern auch Fachverstand.  Diesen vermisst man bei diesem Artikel.

    Wiedergeburt des sozialen Darwinismus

    Die bisher dargestellten Interpretationen von Esser und Seuring beruhen auf groben Irrtümern. Hinzu kommen noch restaurative sozialpolitische Positionen.

    Zwar stellen Esser und Seuring fest, dass sich die beachtlichen Leistungsdifferenzen zwischen den Bundesländern um die Hälfte reduzieren, wenn man die unterschiedliche soziale Zusammensetzung der Schüler*innen berücksichtigt. Doch dieses Ergebnis relativieren sie:  sie individualisieren die soziale Leistungsdifferenz, wenn sie diese auf Intelligenzunterschiede zurückführen.[3] Damit sind für Esser und Seuring die Sozialstrukturen Ausdruck von vorgegebenen latenten kognitiven Strukturen, von Intelligenzdifferenzen:

    „Demnach weisen Schülerinnen und Schüler bei strikter gegenüber liberaler Differenzierung … eine um 0,3 Standardabweichungen höhere Durchschnittsleistung auf … . Der Haupteffekt vermindert sich jedoch deutlich mit der Kontrolle der sozialen Komposition der Schulklassen … . Die strikte Sortierung scheint ihren positiven Effekt also …aus den günstigen sozialen Bedingungen in den Schulklassen zu beziehen. Dieser Schluss wäre aber voreilig, gerade vor dem Hintergrund einer möglichen Konfundierung von Effekten der sozialen Herkunft mit denen der kognitiven Bedingungen. In der Tat zeigt sich in den nachfolgenden Modellen, dass sich die Effekte von der sozialen Herkunft schrittweise auf die der kognitiven Fähigkeiten verlagern: Schon durch die bloße Berücksichtigung der individuellen kognitiven Fähigkeiten reduzieren sich die sozialen Kompositionseffekte deutlich … und noch weiter unter Kontrolle der kognitiven Klassenzusammensetzung …, bis schließlich allgemein Einflüsse nur noch von der individuellen Herkunft ausgehen.“ (S. 292 f.).

    Die Positionen von Esser und Seuring ist eine Wiedergeburt des sozialen Darwinismus. Dabei nehmen die Autoren nicht die neuen wissenschaftlichen Forschungen zur Kenntnis, in diesem Fall der Genforschung.

    So erklärt der Psychologie-Professor c. Kuhbandner:

    „Es gibt Untersuchungen mit mehreren hunderttausend Personen, in denen zahlreiche Gene identifiziert wurden, die einen Einfluss auf die Intelligenz haben könnten. Allerdings ist der Effekt der einzelnen Gene verschwindend gering. Selbst wenn man alle Geneffekte kombiniert, kann die aktuelle Forschung Unterschiede in der Intelligenz nur zu vier Prozent erklären.“

    Die Empirie ist ohne Fachverstand blind

    Der hochelaborierten statistischen Untersuchung von Esser und Seuring fehlt der Fachverstand. Das verwendete schulische Strukturmodell der Bundesländer bildet die Realität zum gegebenen Zeitpunkt nicht ab; die Auslassungen zur Wirkung der Homogenität sind tautologische, leere Aussagen, die sozialen Unterschiede werden trotz der Genforschung individualisiert. Es ist bitter, wenn Empiriker explosive Positionen beziehen, ohne sich fachkundig zu machen. Ohne Fachverstand aber ist die Empirie blind.

    Literatur

    Edelstein, B., Von der Schulform zur schulischen Organisationsform. Discussion Paper P 2020-001 Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (2020)

    Esser, H.; Seuring, J., Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit, Zeitschrift für Soziologie 2020; 49(5-6): 277-301.

    Helbig, M; Nikolai, R., Die Unvergleichbaren. Der Wandel der Schulsysteme in den deutschen Bundesländern seit 1949 Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015.

    Kuhbandner, C.  Intelligenz ist nicht angeboren, SZ 14. Dezember 2018.

    [1] Die Kursivfassung in diesem wie in den folgenden Zitaten stammt von Esser und Seuring.

    [2] Schleswig-Holstein hatte als erstes Bundesland das Konkurrenzsystem eingeführt, allerdings gab es zunächst neben dem Gymnasium und der Gesamtschule noch eine kaum eingeführte und angenommene Regionalschule.

    [3] Verschämt ersetzen die Autoren den Ausdruck Intelligenz an den meisten Stellen durch den Ausdruck latente kognitive Fähigkeiten.

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