Mobbing ist kein Problem, das von Kindern und Jugendlichen ausgeht.

    Mobbing in der Schule

    Ein Beitrag von Andreas Reinke.

    Mobbing ist in erster Linie ein von den Erwachsenen zu verantwortendes Führungsproblem.

    Wenn junge Menschen vorgelebt bekommen, dass es in Ordnung und zielführend ist, Macht zu missbrauchen, Integrität zu verletzen, Menschen zu entwürdigen und „Schwächere“ auszugrenzen, lernen sie Machtmissbrauch, Integritätsverletzung, Entwürdigung, Ausgrenzung. Kurz: Sie lernen Mobbing.

    Das Potential zum Mobbing ist in uns genauso angelegt wie das Potential zur empathischen Mitmenschlichkeit und zum kooperativen Miteinander. Mir persönlich scheint gerade im Zusammenhang mit dem Thema „Schule“, dass der Begriff der Potentialentfaltung doch immer wieder etwas zu einseitig bzw. zu rosarot gesehen wird. Zu unseren Potentialen gehört ALLES, was in uns ist. Nicht nur das sogenannte „Gute“.

    Wir müssen uns fragen, WELCHE Potentiale wir an unseren Schulen WIE wecken und entfalten wollen und WELCHE Potentiale wir an unseren Schulen WIE wecken und entfalten. Wir müssen also unterscheiden lernen zwischen dem, was wir erreichen wollen und dem, was wir tatsächlich erreichen! Auch bezogen auf das Thema „Mobbing“.

    Würde man 100000 Lehrer fragen, ob sie ihren Schülern Mobbing beibringen wollen, würden 100000 Lehrer antworten: „Nein!“. Einige Lehrer würden ihr „Nein!“ sehr wahrscheinlich noch etwas ausschmücken. Zum Beispiel mit dem Satz: „Was ist denn das für eine bescheuerte Frage?“

    Und dennoch geschieht es, dass gerade auch jene Lehrer, die sich mit erhobenem Zeigefinger über die unhaltbaren „Mobbing-Zustände“ an unseren Schulen empören und aus voller Überzeugung eine Null-Toleranz-Haltung kommunizieren, Mobbing praktizieren, vorleben und provozieren.

    So geschehen im folgenden Beispiel:

    Ein Erstklässler stellt nach wenigen Wochen seine Bemühungen komplett ein. Er verhält sich auffällig, aggressiv, grenzüberschreitend. Mittlerweile neigt er dazu, die „Schwächeren“ zu drangsalieren. Lehrer und Schulleiter instruieren die Mutter, sie möge sich „bitte“ Hilfe holen, weil ihr Sohn ein bedenkenswertes und nicht zu tolerierendes Verhalten an den Tag lege. Wenn sich die Mutter nicht sofort kümmere, müssten andere Schritte in Erwägung gezogen werden…

    Im Beratungsgespräch erzählte mir die völlig verzweifelte Mutter, was dem Jungen widerfahren war. Die Klassenlehrerin hatte eines Tages folgende Marschroute ausgegeben:

    „Wer bis zum Ende einer Woche sechs Arbeitsbögen gelöst hat, darf vor die Klasse kommen und erhält einen großen Applaus.“

    Nachdem der Junge vergeblich versucht hatte, das zu bearbeitende Pensum zu erledigen und den heiß ersehnten Applaus zu bekommen, hatte er seine Arbeit irgendwann eingestellt. Warum? Er hatte die bittere Erfahrung gemacht, dass er nicht „gut genug“ war. Ihm war sehr deutlich vor Augen geführt worden (und zwar im wahrsten Sinne des Wortes), dass er nicht zu den Auserwählten gehörte, sondern zu den Versagern.

    An guten Tagen kann ich mich darüber amüsieren, dass viele Lehrer offensichtlich der Auffassung sind, dass Lernen eine linear-kausale, komplett planbare, fachlich zu definierende und im Grunde genommen sehr simple Angelegenheit ist. Nach dem Motto: Meine Schüler lernen das, was ich ihnen beibringen will. Ende Gelände. Wenn Schüler das zu Erlernende lernen, ist es mein Verdienst. Hingegen bin ich weder verantwortlich dafür, wenn sie etwas NICHT lernen, noch dafür, dass sie abseits des zu Erlernenden noch viele andere „Nebenprodukte“ mitlernen. Gerald Hüther spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten „Beifang-Lernen“. Das heißt: Menschen lernen nicht nur ein WAS (einen Inhalt); sie lernen immer auch das WIE mit, d.h. diejenigen Gefühle, Stimmungen und Kommunikationsstile, die in der Auseinandersetzung mit einem WAS den Gemütszustand desjenigen „färben“, der sich mit einem Lerninhalt auseinandersetzt.

    Zu den typischen Mobbinghandlungen gehören:

    Demütigungen, Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen, Zuweisung sinnloser Aufgaben, Gewaltandrohung, soziale Isolation oder ständige, unangemessene Kritik an der Arbeit.

    Genau diese Mobbinghandlungen werden an unseren Schulen täglich vorgenommen und vorgelebt. Nicht zuletzt gerade von denen, die sich voller Inbrunst GEGEN Mobbing aussprechen.

    Jeden Tag werden Myriaden an Schülern vor versammelter Mannschaft beschimpft, kritisiert, lächerlich gemacht, angeschrien, definiert, manipuliert, bloßgestellt, abgewertet, schuldig gesprochen, zum Abschuss freigegeben, kategorisiert, verglichen, abgestempelt, bedroht, ermahnt, bestraft, gezwungen, verängstigt, mit komplett sinnlosen Strafarbeiten zugemüllt, auf „stille Stühle“ gesetzt, in „Trainingsräume“ geschickt und mit einem Lächeln für „vogelfrei“ erklärt. Sie werden gemobbt!

    „Bestünde Lehrern nur im Erklären, wäre es eine einfache Aufgabe.“, sagen Daniel Siegel und Mary Hartzell.

    Bestünde die Lösung einer sich stetig ausbreitenden Mobbing-Problematik nur im Erklären (oder darin, Schüler in Anti-Mobbing-Programme zu schicken), wäre es eine einfache Aufgabe.

    Schulische Mobbing-Täter und Mobbing-Opfer sind im Selbstwert ramponierte Individuen, die – je nach Persönlichkeitsstruktur und Erfahrungshintergrund – mit dem kooperieren, was ihnen in den jeweiligen Schulen / Klassen vorgelebt und angeboten wird. Ich denke, wir müssen uns im Schulkontext bewusst machen, dass der Selbstwert unzähliger Menschen existentiellen Schaden nimmt. Und mittlerweile gehören zu den „unzähligen Menschen“ vermehrt auch Lehrer selbst. Regelmäßig berichten mir Lehrer davon, dass sie in ihren Kollegien gemobbt werden…

    Wer meint, dass das Problem des gegenwärtigen Lehrermangels allein über höhere Gehälter zu lösen wäre, hat nicht verstanden, dass sich immer mehr angehende und etablierte Lehrer gegen den Lehrerberuf entscheiden, weil sie spüren, dass ihnen das, was sie erwartet und das, was von ihnen verlangt wird, nicht gut tut.

    SIE dürfen „Nein“ zu Schule sagen.

    Schüler nicht.

    Liebe Grüße, Andreas Reinke
    INSPIRATION FÜR ELTERN UND PÄDAGOGEN

    In der >>Familienakademie du die Möglichkeit, auf vielfältige Weise und mit meiner direkten Begleitung an den Themen und Fragen zu arbeiten, die dich als Mutter / Vater / Mensch beschäftigen.

    Andreas Reinke – INSPIRATION FÜR ELTERN UND PÄDAGOGENAndreas Reinke (Familylab-Seminarleiter, Trainer für Lehrer*innen, Buchautor von Das wird Schule machen und Vertrauensbildung-Wege aus der Schulangst wurde 1972 in Rendsburg (Schleswig-Holstein) geboren, ist Vater einer vierzehnjährigen Tochter und arbeitet seit sechzehn Jahren als Lehrer. Während seiner Zeit an verschiedenen Grundschulen, weiterführenden Schulen, staatlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft machte Andreas Reinke die nachhaltige Erfahrung, dass es letztlich die Qualität des Miteinanders ist, die darüber entscheidet, wie es den Menschen in pädagogischen Einrichtungen bzw. im familiären Kontext geht und ob sie sich entsprechend ihrer Potentiale entfalten können.

    Als freiberuflicher familylab-Seminarleiter (gegründet vom dänischen Familientherapeuten Jesper Juul) bietet Andreas Reinke seit 2015 regelmäßig Beratungen, Workshops und Vortrags- und Gesprächsabende für pädagogische Fachkräfte und Eltern an. Auf seiner facebook-Seite INSPIRATION FÜR ELTERN UND PÄDAGOGEN veröffentlicht er regelmäßig Gedanken zu den Themen Schule, Lernen, Bildung, Familie, Elternsein.
    Andreas Reinke lebt mit seiner Tochter in Grimma (Nähe Leipzig) und arbeitet auf Honorarbasis am Evangelischen Schulzentrum Muldental.

    Hier weitere Informationen zu Andreas Reinke:
    Familienakademie
    https://familylab.de/trainer/andreas-reinke/
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