Offener Brief zur unterschiedlichen Handhabung der Probenregelungen an bayerischen Schulen – hier Mittelschule 9+2

    An das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus

    Herrn Kultusminister Michael Piazolo

    Salvatorstr. 2

    80333 München

    Erding, 25.5.2021

    Sehr geehrter Herr Professor Piazolo,

    ich wende mich heute im Namen und stellvertretend für viele andere Eltern in ähnlichen Situationen, mit diesem offenen Brief an Sie.

    In der KW 19 wurde endlich entschieden, dass die Schüler an bayerischen Schulen vor den Pfingstferien in unterschiedlichen Varianten zurück an die Schulen durften. Ein kleiner Lichtblick in Anbetracht der vergangenen Monate.
    Nicht wirklich gelungen war die zugehörige Kommunikation nach außen. Sowohl in die Öffentlichkeit als Ganzes, als auch, zumindest mancherorts, an die Schulen und somit an Ihre Untergebenen.
    In verschiedenen Beiträgen einiger Medien (bspw. Süddeutsche Zeitung, Merkur usw.) wurde mitgeteilt, wie die Rückkehr an Realschulen, Gymnasien und Wirtschaftsschulen erfolgen soll. Es wurde angekündigt, dass an diesen Schulen dieses Schuljahr keine Proben mehr geschrieben werden sollen. Und wenn doch, dann nur, wenn sie lange genug angekündigt waren. Gewertet werden sollen diese nur dann, wenn die Note eine Verbesserung bringt. Die Schüler sollten und müssten erst einmal wieder in Ruhe im Lebensraum Schule ankommen.
    Auf freiwillige Leistungsnachweise werde ich hier nicht eingehen. Der Name spricht ja für sich.

    In all diesen Ausführungen kam nicht, bzw. nur rudimentär, zur Sprache, wie die Vorgehensweise an Mittel- und Berufsschulen sein soll.
    Die Informationen zum Umgang an diesen Schulen waren sehr schwammig. „Lehrkräfte an Mittelschulen haben größere Handlungsspielräume und sollen mit Augenmaß agieren.“
    Auf das „Augenmaß“ wurde in der Kommunikation grundsätzlich mehrfach hingewiesen. Auch Stehgreifaufgaben wurden in diesem Zusammenhang thematisiert und es wurde auch hier auf eben jenes „Augenmaß“ verwiesen.

    Das Resultat dieser „Augenmaß“-Ansage an der Schule meines Sohnes war nun, dass seit dem 12.5.2021 im Rahmen des täglichen Wechselunterrichts vier (!) Tests anberaumt wurden. Die Klasse ist in zwei Gruppen geteilt, jede dieser Gruppen ist seit Beginn des Präsenzunterrichts bis zu den Pfingstferien jeweils vier Tage in der Schule. Am ersten Tag fand kein Test statt. Wäre mehr Zeit gewesen, hätte die Klassleitung noch mehr Tests geschrieben.
    Auf Nachfrage der Elternsprecher bei der Klassleitung wurde die Auskunft erteilt „An den Mittelschulen dürfen Leistungsnachweise geschrieben werden.“
    „Dürfen“ heißt aber nicht „müssen“!
    Zu bemerken ist hierbei, dass diese Klasse pro Woche maximal 3×45 Minuten Videokonferenzunterricht hatte. Und dies meist für Mathe. Mehr Unterricht gab es nicht.
    Alle anderen Unterrichtsinhalte sollten sich die Schüler selbst oder mit Hilfe irgendwelcher Lernvideos beibringen.

    Wohlgemerkt: wir sprechen hier von einer Klasse Mittelschüler (Vorbereitungsklasse 10V1 für 9+2), die es (außer die Eltern konnten es ihnen vermitteln) noch nie richtig gelernt haben, eigenständig und selbstständig zu lernen. Autodidaktik ist an der Mittelschule bis heute kein probates Mittel um den Lernwillen der Kinder zu fördern. Sollten sie daran zweifeln, so nehmen Sie sich einmal die Zeit und schauen Sie sich entweder eine Unterrichtsstunde an oder studieren Sie die Lernmaterialien. Dann erhalten Sie einen Einblick in diese Art von Lernen. Es ist reine Auswendiglernerei.

    Im Vergleich dazu erleben wir es, dass an höheren Bildungseinrichtungen zumindest seit Beginn des zweiten Lockdowns tägliche Videokonferenzen nach Stundenplan stattfinden. Allerdings wurden hier keine Tests vor den Pfingstferien geschrieben und auch danach sind nur wenige geplant!
    An diesen Schulen wird über hochmoderne Konferenz-Tools gearbeitet. Die Lehrer dort sind präsent, stehen für Fragen zur Verfügung.

    An den Mittelschulen, die über den nur leidlich funktionierenden „Schulmanager“ arbeiten, funktioniert das bei manchen Lehrkräften, die entsprechend motiviert sind ebenfalls.
    An der Schule, bzw. Klasse unserer Kinder ist dies jedoch nicht der Fall.

    Ein Jahr sollte doch wirklich lange genug sein, um funktionale Tools zur Verfügung zu stellen und Lehrern entsprechende Anweisungen zu erteilen!

    Stattdessen wird an das „Augenmaß“ appelliert, was manche Lehrkräfte dazu verleitet, sich auf dem Rücken der Kinder zu profilieren. Anstatt den Fokus darauf zu richten, die Kinder nun da abzuholen, wo sie stehen, versucht man mit aller Gewalt auf Biegen und Brechen Quoten zu erfüllen. Dieser Umstand macht mich/uns traurig und wütend. Denn er ist direkt auf schwammige, unklare Aussagen des Dienstherrn dieser Lehrkräfte zurückzuführen. Zurück bleiben viele Kinder und Jugendliche, die jede Perspektive in wenigen Wochen glauben verloren zu haben.

    Es ist Ihre Aufgabe, Ihre Lehrerschaft klar und deutlich anzuweisen und ihnen nicht Freiräume zu geben, die mancherorts zu noch größerem Schaden führen!
    Es ist Ihre Aufgabe, notfalls auch gegen interne Widerstände, Fachleute mit einzubeziehen, um Kinder, die teilweise massiv unter der Situation gelitten haben, wieder in den Schulalltag zu holen!
    Investieren Sie die zusätzlichen Gelder, die für den Vertiefungsunterricht in den Sommerferien freigegeben wurden besser in Sozialpädagogen und Psychologen!

    Die Ferienangebote werden die wenigsten nutzen. Denn die Kinder brauchen ihre Ferien! Aktuell mehr denn je!
    Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Quote der Schulabbrecher aufgrund psychischer Erkrankungen oder familiärer Probleme, nicht steil ansteigt – denn es war die Entscheidung der Regierung, Schule auf diese Art durchzuführen.
    Es ist Ihr Aufgabe, Ihr Bestmögliches dafür zu tun, auch diejenigen Kinder wieder mit auf den Weg zu nehmen, die keine akademischen Pläne haben!

    Es ist Ihre Aufgabe, auch den Kindern wieder eine Perspektive zu geben, die nicht damit gesegnet sind, sich alles selbst erarbeiten zu können oder Eltern zu Hause haben, die sich um ihre Bildung kümmern können!
    Weil ein Großteil der Eltern das gar nicht leisten kann!
    Weil sie arbeiten müssen, um ihre Familie über Wasser zu halten!
    Weil sie keine Lehrer sind!

    Mein Sohn ist voller Eifer auf eine Schule gegangen, die ihm die Möglichkeit bieten sollte, eine weitere schulische, möglicherweise sogar akademische Ausbildung zu absolvieren. Er hat zu Beginn des Schuljahres gute Leistungen erbracht. Er hatte Ziele, Wünsche und Träume. Und dann kam der 2. Lockdown. Zwischen Weihnachten und den Osterferien ging es noch ganz gut mit dem Distanzunterricht, wobei die Streichung der Faschingsferien ein Schlag in die Gesichter der Kinder war, die von zu Hause aus ihr Bestes gegeben haben. Alle Schüler und auch ihre Eltern hätten diese freien Tage dringend gebraucht. Auch wenn man keinen Urlaub machen konnte. Ein paar Tage ohne Homeschooling hätte allen gut getan, um durchzuatmen. Und dann kamen die Osterferien. Der erste Lockerungsversuch, der, wie wir alle wissen, gescheitert ist. Und nach den Osterferien ging der Druck los. Die Motivation ist gesunken, die Aufgaben waren beängstigend viel. Die Angst, sich die Dinge falsch beizubringen kam dazu.

    Und nun kommt der nächste Versuch und startet damit, dass erstmal die Leistung nachgewiesen wird, anstatt als Klasse wieder zusammenzufinden.

    Mein Sohn, und er ist nicht der Einzige, hat den Spaß an der Schule, die Freude am Lernen und die Motivation, seine Ziele zu erreichen, so gut wie verloren.

    Was die bayerische Bildungspolitik hinterlässt, ist mit dem Begriff des „Scherbenhaufens“ nicht deutlich genug beschrieben. Sie hinterlässt die nächste Katastrophe. Denn wenn wir denken, dass wir nur Akademiker brauchen, dann werden wir in den nächsten Jahren massive Probleme bekommen. Unsere Sozialsysteme kranken jetzt schon. Wie krank werden sie sein, wenn wir zwei oder drei Jahrgänge für den Arbeitsmarkt verlieren?
    Gibt es hierzu schon Berechnungen?

    Sehr geehrter Herr Piazolo,

    ich/wir appelliere/n an Sie, auch an die Mittelschüler und Berufsschüler und alle anderen zu denken, die ich hier nicht aufgelistet habe!
    Sie werden auch in näherer Zukunft unsere wirtschaftliche Basis sein!

    Schaffen Sie endlich das Elitendenken im Bildungssystem ab!
    Alle haben das Recht darauf, anzukommen, wieder eine Schulgemeinschaft zu werden!
    Nicht nur Gymnasiasten, Realschüler, Wirtschafts-, FOS- und BOS-Schüler!

    Sie sind auch die Wähler der Zukunft!

    Seien Sie mutig und fragen Sie die Betroffenen direkt, was sie brauchen und wie es ihnen geht!
    Verstecken Sie sich nicht hinter Ministeriumsmauern in einem Elfenbeinturm sondern sprechen Sie mit den Menschen – Ihren Wählern. Im direkten Kontakt, nicht durch Informationsfilter!

    Verschaffen Sie sich ein korrektes Bild der Situation und verlassen Sie sich nicht auf die Schönrederei derer, die ihr eigenes Versagen nicht sehen wollen. Reden Sie sich selbst die Situation nicht schöner als sie ist!
    Sprechen Sie mit Schülern, Eltern und Lehrkräften. Aber bitte nicht nur mit denen, deren Anwesenheit Ihnen genehm ist. Sondern insbesondere mit denen, deren Existenz man dem Bildungsministerium wohl mal sehr nachdrücklich bewusst machen muss!
    Es gibt nicht nur die Elite, es gibt vor allen Dingen die Basis!
    Hören Sie dieser zu!

    Und lernen Sie für die Zukunft daraus.

    Im Namen aller Eltern, die sich durch diesen Brief angesprochen fühlen, verbleibe ich

    Mit besten Grüßen

    Annette Meixner

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