Whanaungatanga, Strandmathe und Schatzkoffer
    – Lernen in Neuseeeland

    Ein Blogbeitrag von Verena Friederike Hasel.
    Buchautorin des Bestsellers:
    Der tanzende Direktor – Lernen in der besten Schule der Welt

    In meinen Zwanzigern habe ich gemeinsam mit zwei Freundinnen eine Weltreise gewonnen. Drei Monate waren wir unterwegs, und als wir nach Deutschland zurückkehrten, habe ich fast nur von Neuseeland gesprochen, so viel, dass die Leute mich fragten: „Aber ihr wart schon auch in anderen Ländern, oder?“

    Jahre später kehre ich mit meinem Mann und unseren drei Töchtern in das Land zurück, in dem Bäume eigene Namen tragen, die Glühwürmchen nachts die Wälder erleuchten und die Menschen am liebsten barfuß gehen. Wir leben in einem kleinen Holzhaus ein paar Schritte vom Meer, und eigentlich will ich möglichst viel Zeit in der Natur verbringen.

    Dann bringe ich meine große Tochter das erste Mal zur Schule. Ich erlebe, wie der Direktor alle Kinder morgens an der Straße begrüßt, ich sehe die Aula, in der die Fahnen sämtlicher Länder hängen, aus denen die Kinder stammen, ich höre, dass sie einmal die Woche mit den Bewohnern des Altersheims um die Ecke Aerobic machen, und ich beginne zu ahnen, dass ich in Neuseeland die Schönheit nicht nur in der Natur finden werde. Am Ende unserer Zeit in Neuseeland habe ich mehr Zeit in Klassenzimmern und auf Schulhöfen als in Glühwürmchenwäldern verbracht und habe keine Minute bereut.

    Wir Deutschen sind gut darin, den Finger in Wunden zu legen, wir wissen genau, was schlecht ist und was alles nicht geht. Die Neuseeländer dagegen sind gut darin, es einfach besser zu machen.

    Es ist Abend in Neuseeland, draußen ist es dunkel, und ich laufe mit meiner Tochter zur Schule, wo schon ein großer Bus steht, der ihre Klasse zusammen mit Lehrern und einigen Eltern ins Aquarium bringen wird. Wochenlang haben sich die Kinder im Unterricht mit der Antarktis beschäftigt, an diesem Tag übernachten sie zum Abschluss dieses Projekts bei den Pinguinen, und noch heute könnte man meine Tochter nachts wecken und sie könnte aus dem Stegreif einen umfassenden Pinguin-Vortrag halten.

    Dieses erlebnisbasierte Lernen findet man überall in Neuseeland.

    Als Erstklässler den Buchstaben B durchnehmen, liest die Lehrerin mit ihnen eine Geschichte über einen eigensinnigen roten Ballon, und danach lassen sie ihre eigenen roten Ballons in den Himmel steigen und schreiben auf einen Zettel, den sie an die Ballons anheften, wohin diese fliegen möchten. Egal um welches Fach und welches Thema es sich handelt: Immer sprechen die Lehrer die Emotionen der Kinder an und zeigen den Bezug zu ihrem Alltag. Den Jungen, der morgens erzählt, dass ihm ein Zahn ausgefallen sei, fragt die Lehrerin, ob er ausrechnen könne, wie viele Milchzähne er insgesamt noch verlieren werde. Ein anderes Kind, das Fußball sehr liebt, wird aufgefordert, die chemischen Eigenschaften seines Trikots zu untersuchen, und lernt auf diese Weise Polyester kennen.

    Neuseeländische Lehrer sind Meister darin, die Kinder zum Lernen zu verführen.

    Eine Lehrerin sagt ihren Schülern, sie habe am Wochenende einen geheimnisvollen Koffer im Klassenraum entdeckt. Gemeinsam packen sie ihn aus und finden darin unter anderem ein Amulett und alte Landkarten. Die Kinder sind so begeistert von diesem aufregenden Fund, dass sie sofort zu schreiben beginnen, und die Lehrerin, die den Koffer mit Hilfe der Eltern gefüllt hat, sitzt lächelnd dabei, als überall im Klassenzimmer Briefe an den vermeintlichen Besitzer und Geschichten über das Amulett entstehen.

    Literatur ist von enormer Bedeutung an neuseeländischen Schulen, und Bücher dienen nicht nur der Wissensvermittlung, sondern vor allem der Persönlichkeitsentwicklung. Je mehr Bücher man gelesen hat, desto mehr Arten zu leben kennt man und desto leichter kann man sich in andere hineinversetzen. Und so lässt ein Lehrer, in dessen Klasse es einen subtilen Fall von Mobbing gibt, den Unterrichtsstoff für eine Weile ruhen und liest mit den Kindern stattdessen den Roman „Wunder“, in dem ein Junge, dessen Gesicht entstellt ist, von seinen Mitschülern gehänselt wird.

    Kinder sollten lernen, Literatur zu genießen – so steht es im landesweit geltenden Curriculum. Über diesen bemerkenswert schlichten, wahren und schönen Satz habe ich sehr gestaunt, noch mehr aber darüber, wie das Curriculum entstanden ist. Entwickelt wurde es von mehr als 15000 Schülern, Lehrern, Direktoren, Eltern, Wissenschaftlern und Maori-Vertretern gemeinsam, danach durften alle übrigen Neuseeländer Vorschläge einbringen. Ein extrem aufwändiges Vorgehen, aber den Neuseeländern war es wichtig, bei so einem wichtigen Thema eine gemeinsame Vision zu entwickeln.

    Auch sonst arbeiten Eltern und Lehrer zusammen.

    Weil man festgestellt hat, dass die Menschen, die Entscheidungen treffen, nie zu weit von den Konsequenzen dieser Entscheidungen entfernt sein sollten, verwalten sich alle Schulen selbst. Das wichtigste Gremium jeder Schule ist das Kuratorium, in dem Eltern und Lehrer sitzen und beispielsweise über die Einstellung von neuen Lehrern und die Verwendung von Geld entscheiden.

    Grundsätzlich bekommen Schulen unterschiedlich viel Geld vom Staat. Schulen, die in wohlhabenden Gegenden liegen, bekommen weniger finanzielle Unterstützung, da erwartet man von den Eltern, dass sie sich einbringen, Schulen in sozial schwachen Gebieten bekommen dafür umso mehr Geld.

    Dass dieses Prinzip, das ohne viel Solidarität gar nicht möglich wäre, niemand in Frage stellt, liegt auch daran, dass in Neuseeland Whanaungatanga herrscht. Ein unübersetzbares Wort, ein Wort aus der Sprache der Maori, ein Wort, das für etwas steht, dass wir kaum kennen. Whanaungantanga bezeichnet einen Zusammenhalt, der so groß ist, dass rein individualistische Vorstellungen vom Glücksstreben keinen Platz haben. Nach dem Terroranschlag in Christchurch redeten Menschen in aller Welt über die empathische Reaktion der Premierministerin und die Menschenketten, die Neuseeländer rund um Moscheen bildeten – auch das war Ausdruck von Whanaungatanga.

    Doch jetzt sind wir schon beim Großen. Was mich an den neuseeländischen Schulen sehr beeindruckt hat, war der Sinn für Details. An einer Schule werden Radierer aus den Federtaschen der Erstklässler verbannt, damit sie lernen, sich für Fehler nicht zu schämen, an einer anderen haben die Lehrer ausgemacht, einen Rhythmus zu klatschen, wenn die Kinder unruhig werden. „Wir haben keine Lust, laut zu werden“, erklärt mir die Lehrerin, und tatsächlich wird es im Klassenzimmer leise, sobald die Lehrer anfangen zu klatschen, denn die Kinder müssen die Rhythmen nachklatschen und das geht nur, wenn sie genau hinhören. Und in einer Klasse lässt die Lehrerin die Kinder einen Aufsatz schreiben mit dem Titel „Was meine Lehrerin über mich wissen sollte“.

    Damit Lehrer auf all diese wunderbaren Ideen kommen und sie auch umsetzen können, werden sie von vielen Dingen befreit, die sie in Deutschland Tag für Tag erledigen müssen. Neuseeländische Lehrer dagegen haben die Möglichkeit, sich ganz auf ihre pädagogische Arbeit zu konzentrieren – und bekommen dadurch, dass die Schulen ihr Geld selbst verwalten, schnell Hilfe durch Ergotherapeuten oder Logopäden, wenn sie auffällige Kinder in der Klasse haben. Begeistert hat mich auch das Fortbildungssystem, das auf den einzelnen Lehrer zugeschnitten ist – die Fortbildner besuchen die Lehrer an ihren Schulen, geben Modellstunden, helfen bei der Unterrichtsplanung und sind in einzelnen Stunden dabei, um bei konkreten Problemen zu unterstützen.

    Unsere Zeit in Neuseeland ist irgendwann zu Ende gegangen, die Sehnsucht ist geblieben. Gerade sind wir in das Land am andere Ende der Welt zurückgekehrt. Am Donnerstag gelandet sind meine Kinder schon am Freitag wieder in die Schule gegangen. So wollten sie es. Gleich in ihrer ersten Stunde am Freitag hatte meine siebenjährige Tochter beach maths, Mathe am Strand. Und als ich ihre Klasse am Meer sitzen sah, mit allen möglichen Sandformen und Maßinstrumenten, als ich beobachtete, wie sie bauten und buddelten, rechneten und maßen, da wusste ich sehr genau, warum wir nach Neuseeland zurückgekehrt sind.

    Verena Friederike Hasel

    Verena Friedericke Hasel   Buch Cover Der tanzende Direktor

    ist Diplom-Psychologin, Journalistin und Autorin. Sie schreibt für die ZEIT und den Tagesspiegel. Im August 2019 erschien ihr Buch ›Der tanzende Direktor – Lernen in der besten Schule der Welt‹ bei Kein & Aber. Sie war für den Theodor-Wolff-Preis nominiert und hat 2018 den Deutschen Reporterpreis gewonnen. –> geplante Buchlesungen

    Das Buch kann man –> hier kaufen.

    Und wenn Ihr noch mehr von Verena Friederike Hasel lesen wollt, empfehlen wir diesen –> Zeit Artikel.

    fotonachweis: christine rogge

    Das Schulsystem in Neuseeland zählt nach internationalen Standards zu den besten weltweit.

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