Wie viele Liegestützen schaffst du?

    Wie viele Liegestützen schaffst Du?Man stelle sich vor, man arbeitet im Büro wie üblich, der Chef kommt auf einen zu und fragt, ob man eine Gehaltserhöhung mag.
    Natürlich ist man als Mitarbeiter dabei. Denn man leistet doch gute Arbeit. Man hört zu und ist anwesend egal zu welcher Uhrzeit, wenn das von einem verlangt wird, man trägt etwas bei, wenn von einem etwas abgefragt wird. Also ganz klar hat man es verdient eine Gehaltserhöhung zu bekommen.
    Nur geht der Chef nicht nur zu einem selbst sondern tritt vor das ganze Büro.
    Er fragt alle Mitarbeiter gleichermaßen, wer eine Gehaltserhöhung will.
    Viele Hände gehen hoch, einige trauen sich vielleicht nicht. Alle sollen mitgehen. Es geht nach draußen vor das Unternehmensgebäude mit Vorplatz. Der ist schön gekehrt. Es ist sauber.

    Der Chef stellt sich vor allen auf und sagt: Jeder macht jetzt bitte Liegestützen.

    Wer 20 Liegestützen schafft, bekommt sofort die Gehaltserhöhung. Wer 13 schafft, bekommt die halbe Gehaltserhöhung. Darunter bekommt man nichts.

    Blicke wandern zueinander. Einige wirken verunsichert, andere ermutigt. Man spürt die aufsteigende Nervosität, die Hände werden schwitzig, das Herz schlägt höher. Man kann aus den Gesichtern der Mitarbeiter lesen: Viele Gedanken schießen durch den Kopf: Ich schaffe das, ich bin eher der Radler oder Jogger, meine Armmuskulatur ist nicht so stark, wieviele werde ich schaffen können? Wer will, muss jetzt funktionieren. Jacken werden ausgezogen, einige versuchen sich noch warm zu machen. Wann hat man nochmal das letzte Mal Liegestützen gemacht?

    Der Chef macht Handzeichen, die alle auffordern, sich nun in die Startposition zu begeben. Alle bücken sich runter, positionieren die Hände, stellen die Beine auf.

    Los geht es. Eins – zwei – drei – …

    Blicke gehen nach rechts und links. Wie tief kommt der andere? Die ersten legen sich auf den Bauch. Mehr schafft man nicht. Es werden immer weniger, die nach oben kommen. Mehr und mehr liegen unten, sind enttäuscht oder frustriert über ihr eigenes Unvermögen. In den Gesichtern derjenigen, die noch im Spiel sind, wird immer stolzer. Man fühlt sich dem Ziel so nah.

    Die Zahl 20 wird angezählt, 2 von 20 haben es geschafft. Weitere 7 erhalten noch die halbe Gehaltserhöhung. Einer will nicht mal aufhören.
    Der Chef nickt anerkennend.
    Alle gehen wieder an ihren Arbeitsplatz.
    Der Raum ist voller gemischter Gefühle. Einige fühlen sich als Versager, manche ziehen sich zurück, denn sie fühlen sich einfach schlecht, entblößt. Wiederum andere sind stolz, fröhlich. Mit geschwellter Brust setzen sie sich an ihren Arbeitsplatz, wissend, dass die nächste Auszahlung höher ausfallen wird.

    Eine Gemeinschaft gibt es hier nicht mehr. Es müssen sich alle erstmal von dieser Aktion erholen. Ist das gut für den Einzelnen, für das Team oder für die Firma? Es kostet Zeit und Energie, das ist klar. Was machen diejenigen, die keine 13 Liegestützen geschafft haben? Werden sie immer noch voller Eifer ihre Aufgaben erfüllen oder machen sie mehr Dienst nach Vorschrift?

    Eine absurde Geschichte, unvorstellbar in einer Arbeitskultur der Partizipation und Wertschätzung gegenüber Mitarbeitern.

    Genau so hat es sich in einer 5. Klasse eines Münchner Gymnasiums zugetragen.

    Im Sportunterricht wurde das von den Schülern verlangt. Bei zwei geschafften Liegestützen bekam man eine 5, bei 13 Liegestützen eine 2 und bei 20 eine 1.

    Es war die 4. Woche des Schuljahres. Wurden Liegestützen vorher geübt? Nein. Es mussten Noten her. Es braucht dazu etwas, was man vergleichen kann. Etwas dessen Ausführung gleich sein muss. Mehr oder weniger.
    So hatten einige gleich zu Beginn des Schuljahres eine 5 in Sport, nur 2 schafften eine 1.
    Als ich von dieser Geschichte einer befreundeten Mutter hörte, schmerzte es mich richtig.

    Wie viel Spaß soll man im Sport haben, wenn man nur für Noten „bewegt“ wird?
    Es wird ihnen vorgegeben, was man lernen muss und worüber man abgefragt wird.

    Wäre das ein Job, man würde kündigen.

    Und wird dem Schüler nicht durch solche Notenvergabe regelmäßig vermittelt, dass er nicht gut genug ist, dass nicht reicht, was er leistet?
    Und motiviert das den Schüler besser in der Disziplin zu werden? Wieso denn? Die nächste Prüfung wartet schon und es interessiert nicht, ob man etwas später besser kann. Man muss es in dem Moment können. Wenn du den Zeitpunkt verpasst, Pech gehabt. Der Lehrplan verlangt von allen Akteuren weiterzumachen. Die Note steht. Und du musst es mit einem anderen Thema ausgleichen – das ist eher Roulette.

    Es hätte auch ein Projekt werden können, wo eine Klasse sich gegenseitig immer wieder unterstützt, mehr oder besser ausgeführte Liegestütze zu schaffen. Alle als Gemeinschaft, jedem helfend, egal in welcher körperlichen Verfassung jemand anfängt.

    Oder man hätte den Schülern auch drei Übungsarten vorschlagen können, aus der sie sich eine für die Prüfung raussuchen könnten. Eine, die ihnen mehr liegt als austrainierte Armmuskeln.
    Es wäre also möglich gewesen, einen langfristigen Lern- und Motivationserfolg zu verfolgen und keine kurzfristig angelegte Notenvergabe.

    Doch darauf ist unser Schulsystem nicht aus. Noten zählen mehr als das Behalten von Lerninhalten.

    Ich frage mich, wie es wäre in das Kultusministerium zu gehen und die nächste Gehaltserhöhung an das Erreichen von 20 Liegestützen zu binden.
    Man stelle sich vor, dass alle Mitarbeiter herauskommen müssten und auf dem Salvatorplatz sich bereit machen, um spontan Liegestützen zu machen.
    Würden sie das gut heißen?

    Ich finde diese Art der Notenvergabe menschenunwürdig und absolut nicht mehr zeitgemäß. Es vermittelt keinen Spaß an der Aufgabe, sondern wird nur abgearbeitet.

    Und leider ist es nur ein Fach von vielen. Und in jedem wird auf gleiche Weise vorgegangen. Man gibt vor und benotet situativ. Entwicklungen sind unwichtig. Fehler werden geahndet. Doch das beschreibe ich am besten in einem neuen Blog.

    Doch eine Frage brennt mir auf dem Herzen:
    Wie viele Liegestützen schaffst du?

    Günes Seyfarth

    Ein Blogbeitrag von unserem Vorstand Günes Seyfarth

    Günes Seyfarth wusste schon als Kind, dass sie andere darin unterstützen will, ihr Potential zu entfalten. Sie ist bei uns im Vorstand von Eine Schule für Alle in Bayern e.V. als Schriftführerin und bringt sich mit Ihren Ideen an vielen Stellen ein. Bei allem was Sie anpackt, liegen ihr Nachhaltigkeit, Bildung, Kinder und Lebensmittelwertschätzung ganz besonders am Herzen.
    Sie ist Mitgründerin der Krippe Karl & Liesl e.V. in München Giesing und Gründerin von Mamikreisel, einer Online-App, um gebrauchte Baby- und Kindersachen zu tauschen, verkaufen und verschenken. Sie ist Gründerin von Foodsharing München und berät bei den MacGyvers GründerInnen, StartUps und kleinere Unternehmen.

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