Helikoptereltern – Wenn Eltern an den Pranger gestellt werden.

    Ein Beitrag von Andreas Reinke.
    Bevor ich Vater wurde, war ich bereits seit zwei Jahren Lehrer. In dieser Zeit ging ich einer Beschäftigung nach, die für Junglehrer durchaus typisch ist: Ich übte mich darin, alles besser zu wissen, Eltern zu belächeln und sie als „Helikoptereltern“ zu betiteln. In meiner jugendlichen Arroganz dachte ich, dass es ja nun wirklich nicht so schwer sein kann, sein Kind „richtig“ zu erziehen. Hier ein paar Regeln und Grenzen, da einige Ansagen und Konsequenzen. Das Ganze garnieren mit einer guten Portion Fürsorge und dann läuft der Laden. Ich hielt mich für das Maß aller Dinge und wusste selbstverständlich sehr genau, was eine „gesunde Portion Fürsorge“ ist und ab wann Fürsorge in Überfürsorge ausartet.

    Mit Unverständnis, einigen angelesenen Argumenten und etlichen normopathischen Sprachgewohnheiten reagierte ich auf „überfürsorgliche Eltern“, deren wichtigste Aufgabe meiner Meinung nach darin bestand „einfach mal loszulassen“ und „uns Lehrern zu vertrauen“. Aus heutiger Sicht ist es mir geradezu peinlich: Vor mir saßen Erwachsene mit zum Teil deutlich mehr Lebenserfahrung und ich ärgerte mich darüber, dass Sie mir, dem allwissenden Lehrer, mit Skepsis begegneten. „Eindeutig beratungsresistente Eltern!“, resümierte ich nach so manchem Elterngespräch. Oder: „Die Eltern von Jasmin wollen DER Realität einfach nicht ins Auge schauen!“

    Was bitte wusste ich nach einem Leben voller Schule über eine wie auch immer geartete Realität?

    Ich bediente mich scheinprofessioneller Floskeln und war voll infiziert mit dem Glaubenssatz, dass ich allein vor dem Hintergrund meiner Rolle als Lehrer immer im Recht sei. Heute weiß ich, dass eines der größten Probleme an unseren Schulen darin besteht, dass noch immer unzählige Lehrer meinen, sie müssten als sogenannte rollenbedingte Autoritäten für „Ruhe und Ordnung“ sorgen. („Du hast mir zu gehorchen, weil ich Lehrer bin!“) Dieser Führungsstil funktionierte möglicherweise vor vierzig Jahren, nicht jedoch im Jahre 2019.

    Wer sich heute als Lehrer vor Schülern oder Eltern aufbaut und meint, aus seiner Lehrerrolle heraus Eindruck machen zu können, muss entweder unfassbar viel Druck aufbauen, um für „RUUUHE!“ zu sorgen oder unter Schmerzen lernen, dass es an der Zeit ist, den Schritt von der rollenbedingten zur persönlichen Autorität zu wagen.

    Wenn ich an den Lehrer denke, der ich einst war, kommt in mir der Wunsch auf, mich bei alle den Eltern zu entschuldigen, denen ich mein einfältiges Lehrer-Käseglocken-Weltbild überstülpen wollte. Nur: Woher hätte ich wissen sollen, dass Beziehungskompetenz etwas Anderes ist als „Hinsetzen und zuhören! Ich Lehrer. Du Jane!“?

    In unserer Ausbildung hatten wir nicht gelernt, die Verantwortung für das eigenen Denken und für die Qualität der Beziehung zu übernehmen. Wir wurden zu Wissensvermittlern ausgebildet.

    Dann, nachdem ich zwei Jahre lang von Eltern erwartet hatte, meinen Erziehungsidealen zu entsprechen, kam meine Tochter Emma zur Welt. Vom ersten Tag an hatte sie eine etwas andere Idee vom Leben auf diesem Planeten. Meine modellhaften und statischen Seifenblasen-Ideen vom einfachen Elternsein zerplatzten innerhalb von Tagen und ich fing an zu rotieren und nachzudenken.

    Zum Glück hatten wir als Eltern immer ausreichend Humor, um uns selbst auf die Schippe zu nehmen. Das entspannt! Unter lautem Gelächter bezeichneten wir uns wahlweise als „Lari-Fari-Eltern“ (Die Mutter meiner Tochter war Lari und ich war Fari…) oder auch als Helikoptereltern.

    Meine Erfahrungen als Vater haben mir geholfen, meine Einstellung gegenüber Eltern komplett zu erneuern. Ich habe den allergrößten Respekt vor all den Eltern, die den Mut haben, sich im Spannungsfeld aus elterlicher Integrität („Hier sind wir. Mit all unseren Werten, Unsicherheiten, Ängsten, Wünschen, Träumen, Grenzen, Bedürfnissen, Kindheitserfahrungen und mit all unserer Liebe“) und Kooperation im Außen (Krippe, Kindergarten, Schule, Erziehungsexperten, Lehrer, Bücher, Ratgeber, Medien, Großeltern, Freunde, WhatsApp-Gruppen…) zurechtzufinden und zu positionieren.

    Ähnlich wie Kinder und Jugendliche leben Eltern heute in einer Welt, in der zumindest zwischen den Zeilen folgender Imperativ die Menschen auf Dauer verrückt macht:

    „Seid so, wie ihr seid und haltet euch an die Norm!“ Das nennt man ein kognitives Dilemma.

    Und wie gehe ich mit den sogenannten „Helikoptereltern“ um?

    Schritt 1: Ich emanzipiere mich von der Bezeichnung „Helikoptereltern“ und gehe in den gleichwürdigen Dialog.

    Mag sein, dass heute viele Eltern aus Liebe zu ihren Kindern, in dem Wunsch, gute Eltern zu sein und aus Angst vor Horrorszenarien das Rotieren beginnen. Mag sein, dass es heute vermehrt Kinder gibt, die an der Seite von Eltern aufwachsen, die in Reaktion auf die eigene Kindheit die eigenen persönlichen Grenzen aufgeben. Mag sein, dass manche Eltern nicht genau wissen, was der Unterschied ist zwischen Lust und Bedürfnis.

    Aber wer bitte sind wir, dass wir als Lehrer meinen, darüber befinden zu dürfen, was „richtig“ (fürsorglich) oder „falsch“ (überfürsorglich) ist. Haben wir Kurse zu der Frage belegt, ab wann Eltern in die Kategorie „Helikoptereltern“ gehören? Sind wir aufgrund eines besonderen Fach- bzw. Geheimwissens dazu autorisiert, über Eltern zu richten beziehungsweise Eltern zu instruieren? Und mal ehrlich: Was wissen wir über Bindungsforschung, Entwicklungspsychologie, Neurobiologie?

    „Also wirklich! Ich muss doch keine besonderen Kurse besuchen oder Fachbücher lesen, um zu wissen, was richtig und falsch ist. Das SIND Helikoptereltern. Das sehe ich doch. Da reicht mir mein gesunder Menschenverstand!“

    Vorsicht! Es gab Zeiten, da sich Menschen ihres gesunden Menschenverstandes bedienten und sehr schlimme Dinge taten.

    Ich selbst lehne die Bezeichnung „Helikoptereltern“ mittlerweile komplett ab. Nach meiner Erfahrung geht der Gebrauch der Formulierung „Helikoptereltern“ für gewöhnlich einher mit Besserwisserei, Respektlosigkeit und Anklage. Und ich muss es so klar sagen: Im Umfeld Schule ist es geradezu salonfähig geworden, mit scheinprofessionellen Formulierungen wie zum Beispiel „Helikoptereltern“ für „Klarheit“ zu sorgen:

    • „Das sind Helikoptereltern. Da kann man nichts machen.“ (Was sind „Helikoptereltern“?)
    • „Ihr Kind hat ein Wahrnehmungsproblem!“ (Was ist ein „Wahrnehmungsproblem“?)
    • „Als Schulleiter muss ich für den Schulfrieden sorgen!“ (Was ist „Schulfrieden“?)
    • „Jan ist ein Klassenclown.“ (Ein WAS?)
    • „Schüler X hat einen Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung.“ (Kann mir bitte jemand erklären, was der „Geist“ ist?)
    • Okay, aber was mache ich denn als Lehrer, wenn ich den Eindruck habe, dass die Eltern von Katja auf eine erdrückende Weise fürsorglich sind?

    Ich löse mich von dem Gedanken, dass ich irgendeine objektive Wahrheit kenne und lade die Eltern ein zum gleichwürdigen Dialog. Und wenn es mir gelingt, einen guten Kontakt zu etablieren, werden Eltern nach meiner Erfahrung IMMER offen werden für neue Gedanken, Fragen und Hinweise. NICHT offen werden sie, wenn ich mit der Idee der „Helikoptereltern“ auf sie einrede und ich selbst nicht offen bin.

    Ein Gedanke zum Abschluss:

    Was ist das eigentlich für eine merkwürdige Logik, dass wir Lehrer immer dann, wenn es gut in unser Konzept passt, darauf bauen, dass Eltern durch die Gegend „helikoptern“?
    Eltern sollen einerseits ihre Grundschulkinder am Eingang zur Schule abgeben (weil die ja schon groß sind) und andererseits dafür Sorge tragen, dass die Hausaufgaben vollständig und fristgerecht abgegeben werden.
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    In der >>Familienakademie lädt Andreas Reinke alle Eltern ein, die viel Freude daran haben, miteinander die Helikopter-Perspektive einzunehmen, um sich und die eigene Familie mal „von oben“ anzuschauen.

    Live könnt Ihr Andreas Reinke am 21. November 2019 in München bei seinem Vortrag „Lehrer*innen, Eltern, Schüler*innen – Auf die Beziehungen kommt es an“ erleben. Weitere Informationen dazu findet Ihr auf unserer Website >>hier.

    Andreas Reinke – INSPIRATION FÜR ELTERN UND PÄDAGOGENAndreas Reinke (Familylab-Seminarleiter, Trainer für Lehrer*innen, Buchautor von Das wird Schule machen und Vertrauensbildung-Wege aus der Schulangst wurde 1972 in Rendsburg (Schleswig-Holstein) geboren, ist Vater einer vierzehnjährigen Tochter und arbeitet seit sechzehn Jahren als Lehrer. Während seiner Zeit an verschiedenen Grundschulen, weiterführenden Schulen, staatlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft machte Andreas Reinke die nachhaltige Erfahrung, dass es letztlich die Qualität des Miteinanders ist, die darüber entscheidet, wie es den Menschen in pädagogischen Einrichtungen bzw. im familiären Kontext geht und ob sie sich entsprechend ihrer Potentiale entfalten können.

    Gerade in Krisensituationen – so seine Überzeugung – können konkrete inhaltliche Lösungen erst dann gefunden und angenommen werden, wenn ein gleichwürdiger Kontakt zwischen den Erwachsenen bzw. zwischen Erwachsenen und Kindern / Jugendlichen etabliert wurde. Hier sind Aspekte wie Integrität, Authentizität, persönliche Verantwortung und Dialog zu nennen und zu berücksichtigen. Als freiberuflicher familylab-Seminarleiter (gegründet vom dänischen Familientherapeuten Jesper Juul) bietet Andreas Reinke seit 2015 regelmäßig Beratungen, Workshops und Vortrags- und Gesprächsabende für pädagogische Fachkräfte und Eltern an. Auf seiner facebook-Seite INSPIRATION FÜR ELTERN UND PÄDAGOGEN veröffentlicht er regelmäßig Gedanken zu den Themen Schule, Lernen, Bildung, Familie, Elternsein. In der familylabSchriftenreihe publizierte Andreas Reinke zwei Bücher „Das wird Schule machen – Kein Bildungssystem kann besser sein als seine Lehrer“ und „VertrauensBildung – Wege aus der Schulangst“. Andreas Reinke lebt mit seiner Tochter in Grimma (Nähe Leipzig) und arbeitet auf Honorarbasis am Evangelischen Schulzentrum Muldental.

    Hier weitere Informationen zu Andreas Reinke:
    Familienakademie
    https://familylab.de/trainer/andreas-reinke/
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